Solide gefinished. Ja, das ist die Kurzfassung für all jene, die Blogbeiträge lesen, wie Espresso trinken: schnell. Ganz schnell. Und im Stehen. Wer aber wie ich 20 Mal beim Ötzi – diesem launischen Alpenungeheuer mit dem Herz eines sadistischen Bergkobolds – antritt, für den ist ein solides Finish weder Überraschung noch Grund, einen Konfettiregen aus dem Trikot zu schütteln. 20 Mal Ötztaler Radmarathon – an sich wenig spektakulär, aber trotzdem spannend.
Nach zwei Dutzend Teilnahmen wusste ich, wo dieses Biest atmet, wo es schnaubt, und wo es mich mit voller Wucht auf den Boden der Realität schmettern kann. Die vier Pässe? Alte Bekannte. Wie Verwandte, die man nicht besonders mag, aber trotzdem jedes Jahr zu Weihnachten sieht. Die Abfahrten? Routine auf Adrenalinbasis. Und die Flachstücke dazwischen? Meditation mit Puls 170.
20 Mal bin ich an diesem Start gestanden, 17 Mal hat mich Sölden am Ende in die Arme geschlossen – manchmal wie ein Freund, manchmal wie ein Türsteher, der mich widerwillig hereinlässt. 14 Finisher-Trikots vermotten im Keller wie farbenfrohe Kriegsmedaillen. Drei fehlen. Vielleicht stammen sie aus dieser sagenumwobenen Ära, als man noch in Steinach am Brenner starten durfte. Ob es damals überhaupt Finisher-Trikots gab? Keine Ahnung. Die Ergebnislisten haben sich mittlerweile in die digitale Gruft verabschiedet, irgendwo zwischen Windows 95 und AOL-Freistunden-CDs.
Vielleicht habe ich die Trikots verlegt. Das wäre traurig. Vielleicht habe ich mich verzählt. Das wäre peinlich – also scheidet es aus. Ich bleibe dabei: 20 Mal Ötztaler Radmarathon.
Die gute alten Best-Zeiten
Meine Ansprüche sind, bevor ich in Sölden an den Start gehe, von Jahr zu Jahr gleich hoch. Tief in mir drin schlummert immer noch der irrwitzige Gedanke, meine eigenen Bestzeiten zu pulverisieren – jene glorreichen Relikte aus einer Ära, als Schaltwerke noch aus Metall und meine Oberschenkel noch aus Hoffnung bestanden. Und jedes Jahr scheitere ich erneut. An mir selbst. An meiner Überform (zu viel davon), am Gewicht (ebenfalls zu viel davon) und an meiner Rennstrategie (nicht vorhanden, nicht auffindbar, vermutlich nie geboren).
Denn ich – der große Meister der Improvisation, bereite mich traditionell äußerst unstrukturiert vor. Ich war schon immer zu schwer, werde nicht leichter, und liebe es trotzdem, bis St. Leonhard im Sollfenster zu bleiben, nur um danach mehr Verspätung aufzubauen, als die Deutsche Bahn und die ÖBB zusammen an einem verschneiten Mittwochmorgen. Und dann kommt es wieder, mein Endgegner: das Timmelsjoch – ein emotionaler Fleischwolf, der aus Selbstvertrauen feinste Frustrationsspäne drechselt. Egal wann, egal wie: Es ist mein Waterloo. Seit 20 Teilnahmen.
Heuer standen die Sterne jedoch ein kleines bisschen anders. Für den finalen Akt meiner Jubiläumsausgabe griff ich tief in die Trickkiste – und gönnte mir ein übergewichtiges 11–36er Shimano-Ritzel. Das größte, das ich in 20 Teilnahmen je gefahren bin. Bei meinem ersten Ötzi fuhr ich ja noch naiv ein 23er – mit vorne einem 39er Kettenblatt. Dann ging es stetig bergauf: 25, 27, 29, 30, 32, 34 (Campagnolo unter anderem, bevor hier jemand aufschreit). Wechselnde Kettenblätter zwischen 34 und 36, ein mechanischer Selbstfindungsprozess in mehreren Gängen.

Trickkiste, Kapitel
Der erste Test mit 36:36 fühlte sich an wie ein heimlicher Notausgang aus dem Leidenskeller. Unschlagbar. Doch, wie immer beim Ötztaler, kam alles anders. Kurz vor der Abfahrt nach Sölden hatte ich meinen My Esel-Holzrahmen beleidigt. Und zwar nachhaltig. Ja, auch Holz hat Grenzen. Und ja, ich habe sie offenbar gefunden, umarmt und überschritten. Mein Esel war zwar noch fahrbar, aber sein Sounddesign erinnerte stark an einen beleidigten Biedermeier-Kleiderschrank. Details erspare ich uns. Ich habe die Geheimakten ohnehin schon an My Esel weitergeleitet – schließlich besteht meine Mission darin, Rennrad-Holzrahmen an ihre Grenzen zu führen. Und darüber hinaus. Mission accomplished.
Am Weg nach Sölden musste ich mir noch einen T-Esel, also ein Ersatz-Rennrad, holen. Nicht exakt mein maßgefertigter Rahmen, aber eine solide Basis, um halbwegs einen optimierten Rennesel zusammen zuschrauben. Ein zu kurzer Vorbau, eine zu kleines, großes Ritzel und zu viele Spacer mussten verlängert, vergrößert und verringert werden. Dazu kam noch die Überraschung einer Kompaktkurbel. Kurzum, meine Vorbereitung auf den Ötztaler Jubiläums-Radmarathon bestand aus Denken, Messen, Schrauben und Testen. Das ganze mehrmals hintereinander. Am Ende fand ich mein Setup. Einer Premiere mit 34-36 stand nichts mehr im Weg. Meine Rechnung mit dem Timmelsjoch? Theoretisch begleichbar. Praktisch? Nun ja.

Null Frequenz + Null Kraft = Null Bock
Denn was sich bei den ersten Testkilometern (viele waren es nicht, denn das Wetter war am Freitag und Samstag vor dem Rennen alles andere als radfreundlich) noch vielversprechend anfühlte, war am Tag des Rennes ein Griff ins Plumsklo. Mir fehlte es einfach an der Technik, die hohe Trittfrequenz am Berg in Vortrieb zu verwandeln. Im Zweikampf, Mann gegen Mann (und gegen Frau) hatte ich nicht nur das Gefühl im Stand zu treten, ich habe im Stand getreten. Ohne einen Millimeter nach vorne zu kommen. Mit hohem Puls und Verzweiflung im Gesicht. Für mich als dieKetterechts eine Schmach, eine Schande. Das Timmelsjoch war wieder einmal mein persönliches Waterloo
Weil ich auch dieses Jahr ab St. Leonhard (dort wo vielen der Rennfilm reißt) wieder einmal nicht in die Gänge gekommen bin. Weder mit dem butterweichen Mini-Gang, noch mit einem etwas härteren. Null Frequenz + Null Kraft = Null Bock. Eine Rechnung so simpel wie brutal. Darüber hinaus war ich überhitzt. Die Hitzefalle hatte wieder einmal zugeschlagen. Man sollte glauben, beim 20. Ötztaler hätte ich das im Griff. Falsch gedacht.
Meine Iso-Suppe im Bidon war zu warm, zu süß, zu nutzlos. Die anderen? Wie machen die das? Eine Frage, die ich seit Jahren stelle. Antworten? Keine. Nur Selbstmitleid und Schweiß.

Rinnsal der Erlösung
Die guten alten Bestzeiten hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon längst über Bord geworfen. Meine Hochrechnungen und Gedankengänge schlurften langsam aber unaufhaltsam in Richtung Sonnenuntergang und darüber hinaus. Aufgequollen, lustlos und innerlich halbgekocht lahmte ich meinen Esel Richtung Schönau. Verloren. Verlassen. Vereinsamt.
Und dann geschah es: Ich sah ein kleines Rinnsal. Ein unscheinbarer Wasserfaden am Straßenrand, der plötzlich zu meinem persönlichen Lourdes wurde. Ich blieb stehen. Erst ein paar Tropfen. Dann pure Hingabe. Kopfdusche, Flaschentaufe, kaltes Quellwasser direkt in die Seele gegossen. Und siehe da: Eine kleine Auferstehung rollte langsam aber sicher an. Die Betriebstemperatur sank, die Motivation stieg – ein Wunder aus Stein und Schmelzwasser. Der Sonnenuntergang rückte wieder in die Ferne, das Timmelsjoch näher. Und irgendwann – gefühlte Tage später – war ich oben. Pflicht erfüllt.
Die Abfahrt nach Sölden? Ein Gedicht. Schnell. Mit Rückenwind schneller. Mit 52er Kettenblatt wäre es vermutlich ein Liebesbrief an die Gravitation geworden. Supertuck und noch einmal Supertuck – ist ja nicht verboten. Erst freier Fall bis zum Gegenanstieg, dann alles raus: Mautstelle, Hochgurgl, Obergurgl, Gurgl … der Rückenwind schob und schob. Zwieselstein, AWZ, und dann Sölden. Die ganze Dorfstraße für mich allein irgendwo heroisch im hinteren Mittelfeld ausgelaufen.
Die letzte Kurve und dann die Ziellinie. Business usual. 20 Mal Ötztaler Radmarathon in the books. 17 Mal gefinished. Keine Blessuren. Kein Ruhm. Kein Heldenepos. Aber eine kleine, sehr kleine Genugtuung. Und der Freude auf das 21. Mal.

Aus den Archiven
20 Mal Ötztaler Radmarathon sind mehr als 20 Geschichten. Emotionen, die ich jedes Jahr in Wort und Bild zusammengefasst habe und von denen ich heute noch zehre. Auch wenn einige Ausgaben allein in meinem Kopf nachwirken. Die Regenschlachten 2003 und 2013, die Juli Edition 2023, die Hitzeschlacht 2015, der Edition mit Schnee am Kühtai vor dem digitalen Zeitalter, der Start in Steinach am Brenner, die Strecke über Axams und Mutters, mein erstes Finish mit dem My Esel Holzrahmen 2022, die vielen Umleitungen wie über den Haiminger Berg (Sattele) oder Sellrain (Götzener Landesstraße) … Was habe ich alles erlebt und nicht erlebt. Die guten alten Bestzeiten (9h20min im Jahr 2011), das Rennrad schieben, die Armreifen als Beweis für das Überqueren der Kontrollpunkte … das waren noch Zeiten.
Der Ötztaler Radmarathon ist und bleibt ein Mythos – ein widerspenstiger, launischer, aber zutiefst faszinierender Mythos. Nach 20 Teilnahmen weiß ich: Man besiegt ihn nie wirklich. Man verhandelt mit ihm. Jedes Jahr neu. Mal gewinnt er, mal lässt er mich gnädig durch. Und trotzdem stehe ich wieder am Start, weil dieser Marathon mehr ist als Höhenmeter und Qual: Er ist ein Spiegel, ein Lehrer, ein unverschämter Motivator. Er zeigt mir, was möglich ist, was unmöglich bleibt – und dass ich offenbar unfähig bin, Vernunft walten zu lassen. 20 Mal Ötztaler heißt 20 Mal Scheitern, Staunen, Fluchen, Wachsen. Und genau deshalb freue ich mich auf die nächsten 20.
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30. August 2026.
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