Es war ein ganz normaler Tag, ein ganz normaler Abschnitt Landstraße in Müllendorf. Und doch wurde daraus ein Paradebeispiel dafür, wie man im österreichischen Verwaltungsapparat Verantwortung so lange hin- und herschiebt, bis sie sich in Luft auflöst. Mit der Frage, wer schützt uns Radfahrende, wenn niemand zuständig ist?
Der Vorfall selbst ist schnell erzählt: Ein Linienbus (Linie 904, Verkerhsverbund Ost-Region im Auftrag der NÖVOG) überholt mich auf einer Fahrbahn, die nur knapp drei Meter breit ist. Der Bus selbst misst zweieinhalb Meter. Der gesetzlich vorgeschriebene Mindestabstand beim Überholen von Radfahrenden beträgt 1,5 Meter. Wer einen Taschenrechner besitzt – oder einfach nur gesunden Menschenverstand – kommt rasch zum Ergebnis: Das geht sich nicht aus. Niemals.
Doch die Situation war noch absurder: Der Busfahrer überholte an einer Stelle, die wie ein Lehrbuch-Beispiel für Überholverbote aussieht. In Fahrtrichtung eine Rechtsabbiegespur. Daneben Sperrflächen mit Gitterlinien und ein Fahrbahnteiler. Ein Schutzweg, an dem Überholen sowieso verboten ist. Und gleich danach: wieder Sperrflächen. Jeder Fahrschüler würde lernen: Hier bleibt man hinter dem Radfahrer. Jeder, außer eben dieser Fahrer.

Von der Straße ins Büro
Das Ganze wäre schon schlimm genug – doch der eigentliche Tiefpunkt kam erst nach dem Überholen. An der nächsten Haltestelle sprach ich den Fahrer darauf an. Seine Antwort: „Hob di eh g’sehn.“ Und, mit einer Mischung aus Gelassenheit und Zynismus: „Zeig mich halt an.“ Deutlicher kann man Vorsatz nicht formulieren. Er wusste, was er tat. Und er tat es trotzdem. Über das „is sich eh ausgegangen“ diskutiere ich nicht, dann das war sicher keine Verdienst des Fahrers, sondern ein perfekter Balance-Akt meinerseits.
Also tat ich, was man als Bürger tun kann (soll): Ich dokumentierte den Vorfall, schrieb zuerst an den VOR Kundendienst und danach an die NÖVOG (VOR wäre nicht zuständig, obwohl ganz groß auf dem Bus ersichtlich). Die NÖVOG wolle von allem nichts wissen und keine Ahnung haben (Welcher Bus? Welche Linie?). Ich wurde mit den Worten „Laut Aussage des betroffenen Fahrers wurde der Überholvorgang unter Einhaltung des vorgeschriebenen Mindestabstands und in angemessener Geschwindigkeit durchgeführt. Dennoch ist uns bewusst, dass das subjektive Sicherheitsempfinden in solchen Situationen stark variieren kann – insbesondere, wenn es zu einem sehr knappen Überholvorgang bei einem Fahrbahnteiler kommt“) wohl eher verarscht, als besänftigt.
Also war der nächste Schritt erforderlich. Ich schrieb eine Sachverhaltsdarstellung an die Bezirkshauptmannschaft Eisenstadt-Umgebung. Kopie an die NÖVOG.
Schließlich geht es nicht nur um mein subjektives Empfinden, sondern um ein strukturelles Problem: Eine Straße, auf der ein Überholen rechnerisch unmöglich ist, und ein System, das dennoch Überholmanöver zulässt.
Die Antworten waren ernüchternd. Und zugleich erhellend.

Ping-Pong der Zuständigkeiten
Die NÖVOG meldete sich in Person des Pressesprechers zuerst. Reine Schreibrhetorik. Man könne meinen Unmut verstehen, man stehe zu 100 Prozent auf meiner Seite, wenn es um Sicherheit gehe. Sehr freundlich. Aber dann der entscheidende Satz:
„Wir sind nur Auftraggeber der Regionalbusleistungen. Die Fahrer stehen im Dienstverhältnis zum Verkehrsunternehmen.“
Mit anderen Worten: Wir machen die Fahrpläne. Für das Fahrverhalten sind wir nicht zuständig.
Das Verkehrsunternehmen wiederum – die Ausführer – tauchten in den Antworten nur indirekt auf. Sie hätten den Fahrer zur Rede gestellt und ermahnt, hieß es. Ermahnt! Für ein Überholmanöver, das objektiv lebensgefährlich war. Keine Konsequenzen, kein Hinweis auf systemische Schulung, nur eine mahnende Geste.
Die Bezirkshauptmannschaft Eisenstadt-Umgebung wiederum erklärte, dass sie in diesem Fall nicht zuständig sei. Die StVO mag gebrochen worden sein, die Gefährdung mag da gewesen sein – aber man wolle sich damit nicht befassen.
Und so schaukelte es sich hoch zum vielleicht schönsten Satz in dieser ganzen Chronologie, formuliert vom Pressesprecher der NÖVOG:
„Wir sind weder Konzessionsbehörde noch Verkehrsunternehmen noch Exekutivbehörde.“
Kürzer lässt sich die Absurdität nicht zusammenfassen: Wir sind’s nicht. Wir machen nur den Fahrplan.
Transparenz oder Verantwortung?
Zwischendurch garnierte man das Ganze noch mit Floskeln: „Wir stehen zu 100 % auf Ihrer Seite.“ Oder: „Dass wir die Darstellung des Verkehrsunternehmens weitergeben, ist nur ein Zeichen unserer Transparenz.“
Das klingt gut. Nur leider bleibt die Frage offen: Wenn alle transparent sind, aber niemand zuständig, wer übernimmt dann Verantwortung?
Auch die Nachfrage nach konkreten Maßnahmen blieb unbeantwortet. Schulungen für Fahrer:innen? Fehlanzeige. Systematische Überprüfung von Strecken, wo Überholen baulich unmöglich ist? Nicht vorgesehen. Konsequenzen, wenn Fahrer trotz Vorsatz handeln? Nicht in ihrem Kompetenzbereich.
Die Mathematik der Realität
Dabei ist das Problem banal, fast kindlich klar.
- Fahrbahnbreite: 3,0 bis 3,2 Meter
- Busbreite: 2,5 Meter<
- Breite des Radfahrers: 0,6 Meter<
- Mindestabstand: 1,5 Meter
- Seitenabstand zum Straßenrand: 0,7 Meter< (empfohlen)
Rechnung: 2,5 + 1,5 = 4,0.. Erforderlich wären also mindestens vier Meter – plus Platz für den Radfahrer selbst. Also noch einmal ein Meter. Macht rund fünf Meter. Tatsächlich vorhanden: drei. Es fehlen also mindestens zwei Meter. Diese zwei Meter sind der Unterschied zwischen „sicher überholt“ und „Radfahrer unter dem Bus“.
Und doch bleibt das System gelassen. Der Fahrer: „Hob di eh g’sehn.“ Die NÖVOG: „Wir sind nicht zuständig.“ Die Behörde: „Nicht unser Bereich.“
Das große Ganze
Was sich hier zeigt, ist mehr als ein Einzelfall. Es ist ein System, das Verantwortung in so feine Scheiben schneidet, dass sie am Ende verdampft. Auftraggeber, Ausführer, Fahrer, Behörde – jeder für ein Stück zuständig, aber keiner für das Ganze.
Die Ironie dabei: Würde man denselben Vorfall einem Fahrschüler vorlegen, wäre die Antwort eindeutig: „Hier darf man nicht überholen.“ Ein Anfänger wüsste das. Aber ein Profi am Steuer eines Linienbusses darf es – und bleibt ohne echte Konsequenz.
Resignierter Schluss
So bleibt am Ende nur Zynismus. Wenn der Fahrer sagt: „Ich hab dich gesehen“ „Sei froh, dass alles noch gut gegangenist“ und „Zeig mich halt an“, die NÖVOG sagt: „Wir machen nur Fahrpläne“, und die Behörde sagt: „Nicht unser Bereich“, dann ist wohl tatsächlich niemand zuständig.
Vielleicht muss ich mich künftig an höhere Instanzen wenden. An das Schicksal. An das Universum. Oder an den lieben Gott. Denn wenn es in diesem Land um Zuständigkeiten geht, dann sind alle zuständig – bis keiner mehr übrig bleibt.
Und wenn ich das nächste Mal unter einem Bus liege, dann immerhin mit der beruhigenden Gewissheit: Es war niemand schuld.
Bleibt gesund und passt auf euch auf
Cristian aka #ktrchts
PS:
Manche werden sagen: „Ach komm, so schlimm war’s doch nicht. Wirst halt knapp überholt. Passiert mir auch ständig. Reg dich nicht so auf.“
Genau deswegen tue ich mir diesen Aufwand an. Weil wir uns schon so sehr an das Gefährliche gewöhnt haben, dass wir es für normal halten. Weil „knapp überholt“ nicht bedeutet, dass nichts passiert ist – sondern, dass diesmal nur zufällig nichts passiert ist.
Wenn ein Linienbusfahrer sagt „Hob di eh g’sehn“ und dabei wissentlich den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand missachtet, dann ist das kein Kavaliersdelikt. Das ist Vorsatz. Und der Unterschied zwischen Zentimetern und Metern ist in diesem Moment der Unterschied zwischen „alles gut gegangen“ und „Radfahrer unter dem Bus“.
Es geht nicht um mein subjektives Empfinden. Es geht nicht nur darum, dass die StVO klare Regeln vorgibt: 1,5 Meter Mindestabstand. Sondern auch, dass ein gutes Miteinander Regeln und Verständnis braucht. Dass Straßen so geplant und markiert werden müssen, dass dieser Abstand überhaupt eingehalten werden kann. Und dass Unternehmen und Behörden Verantwortung übernehmen, statt sie zwischen sich hin- und herzuschieben, bis sie sich auflöst.
Ich mache mir diesen Aufwand, weil ich nicht akzeptiere, dass Sicherheit im Straßenverkehr zur Verhandlungsmasse wird. Weil jeder Radfahrer, jede Radfahrerin ein Recht darauf hat, nicht nur gesehen, sondern auch geschützt zu werden.
Und ja – ich werde es weiterhin tun. Auch wenn es mühsam ist. Auch wenn es einfacher wäre, zu schweigen und sich zu fügen. Denn wenn wir alle sagen „Es passiert halt, reg dich nicht auf“, dann bleibt am Ende alles beim Alten. Und irgendwann ist das Opfer nicht mehr „nur“ ein paar zerzauste Nerven, sondern ein Menschenleben.