Gruppenfahren – warum das so schwierig ist.

Gruppenfahren© Roberto M.

Was gibt es schöneres, als mit dem Rennrad in einer großen und homogenen Gruppe dahinzurollen. Leichtfüßig dahinzugleiten und die Vorteile des Windschattens zu nutzen. Kilometer zu sammeln, die man sich sonst schwer erarbeiten müsste. Gruppenfahren ist und bleibt die höchste und schnellste Form des Weiterkommens. Kollektives Kräfteschonen. Einer für alle, alle für einen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Individualismus die Gruppendynamik wieder einmal sprengt.

Gruppendynamik ist der Teufel.

Über das sichere Gruppenfahren habe ich mich schon einmal gestürzt. Das Thema ist durch und es gibt nicht mehr viel zu ergänzen. Diesmal sind es andere Gedanken, die mich beschäftigen. Vielleicht, weil ich älter werde und mich deshalb nicht mehr beweisen kann. Möglicherweise bin ich aber für das Gruppenfahren nicht geschaffen. Wer weiß. Für mich ist das Rennradfahren in der Gruppe ein gemeinsames Erlebnis und kein Kräftemessen. Aber genau das erlebe ich immer wieder. Gruppendynamik ist der Teufel und das sich Zügeln eine Tugend, die man braucht, um eine Rennradgruppe zusammenzuhalten.

Rennradgruppen sind wie Organisationen, in der unterschiedliche Charaktere und Persönlichkeiten zusammentreffen. Das kann nie friktionsfrei sein. Da geht es um Positionen und Ansprüche. Und um Rollen, die dann jede*r in der Gruppe selbst einnimmt. Spannend, wenn man sich ein wenig mit der Materie beschäftigt. Beispielsweise das Ganze durch das rangdynamische Positionsmodell (Gruppendynamik) von Raoul Schindler betrachtet und analysiert.

Soziale Interaktion innerhalb von Rennradgruppen.

Auch in einer Rennradgruppe geht es um Positionen. Diese werden eingenommen und können auch immer wieder verlassen werden. Es gilt auch, dass Positionen mehr verliehen als genommen werden (Raoul Schindler). Erst durch die Akzeptanz der Anderen gelangt ein Gruppenmitlied in eine bestimmte Position (niemand wird zum Anführer, ohne dass die anderen Gruppenmitglieder ihm folgen).

Gruppendynamik Rennradfahren
© Roberto M.

Rangdynamischse Postionen* im „Peloton“.

G“ (Gruppenaufgabe bzw. Gegenüber bzw. Gegner): Auf dieses Außenkonstrukt ist die Wirkung der Gruppe gerichtet. Das kann das Ziel der Gruppenausfahrt sein. Zum Beispiel die Kilometer, die Geschwindigkeit, der Berg … Wichtig ist, dass die Gruppe „G“ (das Ziel) durch Alpha erreichbar sieht.

Alpha (Anführer): Alpha führt dem Ziel entgegen und leitet die Auseinandersetzung mit dem Gegenüber („G“). In einer Rennradgruppe ist Alpha, jene*r, mit dem Ziel vor Augen und sagt, wo es langgehen wird (soll). Alpha ist stark außen gewandt und in seinem Handeln nur davon beschränkt, ob die Gruppe ihm/ihr folgt. Folgt die Gruppe Alpha nicht, so ist Alpha auch nicht länger Alpha. Zum Beispiel, wenn die Gruppe sich nicht in der Lage sieht, das Ziel zu erreichen. Oder der Weg zum Ziel zu beschwerlicher wird (zu schnell, zu anstrengend …). Alpha schaut nach vorne und verliert so gerne den Blick nach hinten.

Beta (ExpertIn): Die klassischen „Zweiten“ sind die typischen BeraterInnen. Das Verhältnis zu Alpha ist ambivalent: Einerseits braucht Alpha Beta, um zu führen, und Beta braucht Alpha, um an der Macht teilzuhaben. Andererseits haben Betas am ehesten das Potenzial, Alpha zu stürzen und selbst die Führung zu übernehmen. Betas sind in der Rennradgruppe jene, die mit Alpha die Führungsarbeit leisten und auf ihre Chance lauern.

Gamma (einfaches Gruppenmitglied): identifiziert sich mit Alpha (genauer: mit seiner Außensicht auf „G“ und unterstützt seinen/ihren Weg durch Zuarbeiten ohne eigenen Führungsanspruch. Gammas sind jene, die die „Knochenarbeit“ verrichten, ohne die keine Gruppe arbeitsfähig ist. Gammas findet man in Rennradgruppen zuhauf. Sie sind die HelferInnen, WasserträgerInnen und die Domestiques. Sie schließen Lücken, schauen nach hinten, informieren nach vorne …

Omega (Gegenposition zu Alpha – nicht zu verwechseln mit dem in der Biologie als Omega bezeichneten rangniedrigsten Individuum): ist der Gegenpol des dominanten Gruppengeschehens. Sein/ihr Verhalten äußert sich in offenem oder verdecktem Widerstand gegen die von Alpha kommunizierte Zielerreichung. Zentrales Element ist eine un- oder gegenabhängige Außensicht auf „G“, und genau das zieht in dieser Position den Widerstand auf sich: von Gamma(s), weil er/sie die Identifikation mit Alpha gefährdet (Alpha definiert den Blick auf „G“), und von Alpha, weil er/sie die Führungsposition gefährdet. Omega ist eine konstitutive (= bestimmende) Position in der Gruppe und ein wichtiger Qualitätsindikator für die Gruppenfunktionen – bei Omega drücken sich als Erstes Gruppendefizite (Zielerreichung, Zusammenhalt etc.) aus. Oft wird Omega jedoch nicht als Qualitätsindikator, sondern als Störfaktor angesehen, angegriffen und ausgeschlossen. Nicht selten rutscht nach kurzen kathartischen Episoden ein anderes Gruppenmitglied in diese Position, und das Spiel beginnt von Neuem.

Gruppenfahren ist deshalb so schwierig.

Und jetzt wird es spannend. Wenn die Konflikte um die Omega-Position steigen, besteht die grundsätzliche Möglichkeit, dass aus der Perspektive der Gammas die Verbindung Omega zu „G“ (dem Ziel) stärker erlebt wird, als die von Alpha zu „G“ (dem Ziel). Also, dann die Gruppe Omega eher zutraut, das Ziel zu erreichen. Dazu kommt noch, dass in Rennradgruppen die Betas auch immer wieder auf Ihre Chance lauern und bei einer Schwäche von Alpha gnadenlos zuschlagen.

Genau diese in Gruppe immer wieder auftretenden Spannungen – auch in Rennradgruppen, sind der Grund, warum Gruppenfahren teils schwierig ist oder wird.

Funktion, Position und Rolle in Rennradgruppen.

Funktion und Postion in einer Rennradgruppe geben Auskunft über die Aufgabe und die Macht, die man in einer Gruppe hat. Wie diese ausgeübt wird, bleibt dann von Fall zu Fall offen. Spezifische Merkmale wie Handlungen, Aussehen, Sprache, Körpersprache … sind die Rolle. Rollen sind daher stärker selbstgewählt und haben stärker mit den Persönlichkeitseigenschaften der Rollenträger zu tun

Kompliziert? Nein. Nicht wirklich und von Rennradgruppe zu Rennradgruppe verschieden. Überlegt euch selbst einmal, wo ihr eure Position bei einer Gruppenausfahrt seht. Oder welche Postion ihr beim Gruppenfahren anderen streitig macht oder machen wollt. Dieses Modell ist uns allen näher als wir glauben.

Viel Spass beim Gruppenfahren.
#ktchts

*Quelle: rangdynamisches Positionsmodell von Raoul Schindler (Wikipedia)

Danke für die Empfehlung

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert