Wie immer bin ich bei allem ein notorischer Späteinsteiger. Ein „Late Adopter“ wie aus dem Bilderbuch. So war es auch mit Zwift. Erst seit November 2019 bin ich in Besitz eines Smarttrainers und zahlendes Mitglied in der Zwift-Sekte. Anfänglich sehr zurückhaltend, hat sich meine Begeisterung im Laufe der Zeit und vor allem in diesem Winter exponentiell gesteigert. Die Gründe sind verschieden. Einmal die knappe Zeit nach draußen zu gehen, dann das gehobenere Alter und die Einsicht, Risiken wie chronische Rippenbrüche lieber zu vermeiden und zu guter Letzt das Aufkeimen von Euphorie und Lust, das eigene im Keller liegende Level nach oben zu schwitzen. Nach ein paar Kilometern mehr also Zeit, den persönlichen Erfahrungen mit Zwift ein paar Zeilen zu schenken.
Informieren geht über pedalieren.
Bevor ich mit gelangweilt und ungeduldig irgendwelche Anleitungen lese oder Foren besuche, schmeiße ich mich lieber ins Geschehen. Das war bei Zwift nicht anders. Rad eingespannt und losgetreten. Irgendwo und irgendwas bin dann ich gefahren. Was dazu geführt hatte, dass ich im Stand am Stand getreten bin. Nichts ist weitergegangen. Anders als heute wo ich mittlerweile eine Liste der Strecken habe und diese systematisch abfahre, um viele Punkte (XPs) zu sammeln. Damit ich höhere Level-Sphären emporklettern kann. Informieren geht über pedalieren. Zwiftinsider ist da schon ein guter Tipp für alle jene, die sich mühevolles Punktehamstern ersparen wollen. Einmal Mega Pretzel zum Beispiel bringt 2140 XP, also 107 km, die man sich ersparen kann. Diese späte Erkenntnis hat meinen Badge-Jägerinstinkt geweckt.
Zwift geht auch ohne Ventilator.
Sicher. Nicht. Einen ganzen Winter lang bin ich ohne gefahren. Es war heiß, es war nass und es war nicht auszuhalten. Ich habe mich jedes Mal schon nach fünf Kilometern so gefühlt wie Jack Dawson alias Leonardo DiCaprio in Handschellen auf einem Holzstück treibend kurz vor dem Ertrinken. Mit allen möglichen Tricks habe ich versucht, das Abrinnen des Schweißes zu stoppen. Stirnband, Ärmlinge und Handtuchwickel standen hoch im Kurs. Ein Jahr später ersetzt ein Ventilator diesen Erfindergeist mit Bravour. Im Nu haben sich Performance und auch Ausdauervermögen dramatisch verbessert. War noch vor einem Jahr die Schallmauer von einer Stunde das höchste der Gefühle, so kann ich jetzt schon den ersten 100er und die Vier-Stunden-Schallmauer archivieren. Das ist im Vergleich zu dem, was sonst noch auf Zwift getrieben wird Anfängerniveau, trotzdem: ein kleiner Schritt für diese Verrückten, ein großer Schritt für mich.
Zwift-Erfahrung ist Lebenserfahrung.
Das klingt so weise als käme es aus dem Mund Sokrates‘, Kants oder Schopenhauers. Es ist aber von mir. Auf diesem Smarttrainer lernt man viel fürs Leben. Zum Beispiel jede Menge Deep House Remixes mit Hits aus den 80ern und 90ern. Oder Purple Disco Machine. Denn alles über 100 Beats per Minute wirkt auf mich wie Opium, das intravenös eingenommen wird. Probiert einmal „Il Cuore“ von Andor Gabriel mit vollster Lautstärke. Wenn euch das nicht mitnimmt, dann solltet ihr zu echtem Opium greifen.
Man lernt aber auch die eigene Arbeit darauf zu verrichten. Telefonate mit Kunden oder das Beantworten von E-Mails. Letzteres ist etwas einfacher. Telefonieren hat so einen Touch Erotik, wenn es nicht gelingt das Hecheln zu unterbinden. Was ich auch gelernt habe ist meinen Sony TV via HDMI Kabel mit dem Laptop zu verbinden. Lebensnotwendige Erfahrungen mit Zwift.
Unrühmlich ist dagegen mein Herausfinden, dass man eine abschließende Abfahrt auf Zwift auch unter der Dusche verbringen kann. Das gilt auch für das Pinkeln während man von Alp du Zwift abfährt. Nach Protokoll ganz brav auf der Toilette sitzend. Geschenkte Kilometer.
Zwift ist launisch und zickig.
Einmal zu schnell, dann zu langsam, dann zu leicht und ein anderes Mal wieder zu stark. Zwift ist launisch und zickig. Wenn ich draußen fahre, dann habe ich stets dieselbe Rückmeldung der Straße. Und nach vielen tausend Kilometern auch ein Gefühl für Druck oder Trittfrequenz. Bei Zwift hingegen steuert mich ein Algorithmus. Steigungen fühlen sich nie gleich steil an. Während ich den Zwift KOM bis zum Pass problemlos mit großer Scheibe fahren kann, ist dies bei Alp du Zwift oder hinauf zum Sender unmöglich. Trotz gleicher Steigungsprozente. Und die Glasbrücken in New York sind sowieso unfahrbar. Da werde ich jedes Mal zur Schnecke. Trotz hoher Trittfrequenz, während mich andere spielend überholen. Es kommt auch vor dass sich -1 % anfühlen wie eine unüberwindbare Mauer.
Stichwort Mont Ventoux. Etwas Langweiligeres gibt es wohl kaum. Weder online noch real. Egal wie kraftvoll und schnell ich in die Pedale trete – mein Avatar bewegt sich immer nur in Zeitlupe. Einmal und nie mehr wieder.
Zwiftpower – Events für Starke.
Als Spätberufener habe ich mich logischerweise erst heuer bei Zwiftpower angemeldet. Um ein paar Rennen zu fahren. Als Digital-Analphabet keine leichte Aufgabe. Aber ich bin drinnen. Habe mich bescheiden wie ich bin in der dritten Reihe (also C) eingestuft. Mein erstes Rennen war in Innsbruck. Ich dachte mir, ich starte mit Gleichgesinnten. Doch ich hatte mich nicht richtig informiert und plötzlich war ich mitten im Gewühl von A, B, C und D-Startern. Gemäß meines Lebensmottos „Augen zu und durch“ bin ich natürlich laktagestört von den As überfahren und mit dem Bs mitgeschwommen. Am Ende reichte es für den Sieg bei C und eine eminente Disqualifikation. Weniger gute Erfahrungen mit Zwift eben.
Mein Zugang zu Rennen war somit gestört. Also habe ich mir dann auch so Trainingsfahrten in der Gruppe angeschaut, wie ein „Haute Route“ Tempotraining. In Hinblick auf das 3-Tages-Rennen Ende Februar. Am Plan 5x 10 min mit 230/240 Watt und entsprechender Trittfrequenz. Und ich? Ich war ständig „overpaced“. Entweder zu stark oder zu schnell. Zu viel Watt oder zu hohe Trittfrequenz. Und die Erkenntnis, dass es sehr schwer ist, mir etwas vorzuschreiben. Vor allem dann, wenn dies eine Maschine machen will.
Zwift ist Kopfkino.
Oh ja. Kopfkino. Zwift ist Kopfkino. Da fährst du irgendwo und irgendwas in der Gegend herum. Im Hintergrund läuft Musik und du lässt dich von dieser verleiten. Frankreich, London, Innsbruck, New York oder Watopia. Und du bist nie allein. Du fährst gegen Fremde. Geheimnisvolle Avatare. Und dann heißt es Film ab. Wer sind diese? Plötzlich werden Länderfahnen zu Spuren und Indizien. Nicknamen werden interpretiert und eine computeranimierte Figur wird zu Freund oder Feind. Wer lässt sich auf dich ein? Windschatten geben oder Windschatten nehmen? Matchen oder Pushen? Vorerst einmal ein „Ride on“ um das Eis zu brechen. Dann kann man ja weitersehen. Kommt die Antwort? Ja. Oje, eine Abzweigung. Wohin fährt der oder die Fremde? Weiter mit mir oder ist jemand anderer die oder der Glückliche?
Zwift ist wie Tinder. Entscheidet bei Tinder ein Wisch über die gemeinsame Zukunft, ist es bei Zwift ein Tritt. Und ich stelle mir die Frage, ob sich jemand bei Zwift schon in einen Avatar verliebt hat. Auch das wären Erfahrungen mit Zwift.
Erfahrungen mit Indoor-Training.
Ich habe nicht nur Zwift probiert. Auch myE-Training von Elite, RGT Cycling oder Trainer Road. Hängen geblieben bin ich bei Zwift. Da ist mehr los. Irreal und surreal. Der Gaming-Effekt steht voll im Vordergrund. Gefühlsmäßig auch der Trainingseffekt, wenn ich Strava Glauben schenken darf.
Meine Erfahrungen mit Zwift sind positiv. Die € 15 pro Monat sind kein Geld, welches ich aus dem Fenster werfe. Außer im Sommer. Aber das ist nur meiner Faulheit zurückzuführen. Zwift macht mich unabhängig. Von Zeit und Wetter. Und es macht mit hungrig. Es ersetzt aber in keinster Weise eine Fahrt im Freien. Ich sehe Zwift als Ergänzung. Wo’s geht will und muss ich raus.
ktrchts
#machurlaubfahrrenrnad