Am 5. September habe ich auf der Wiener Straße in Großhöflein nahe Eisenstadt (Burgenland) eine Lektion gelernt, die ich eigentlich nie lernen wollte: Wenn ein Linienbus unbedingt überholen will, dann passt auf drei Metern Fahrbahnbreite plötzlich alles – selbst der gesetzlich vorgeschriebene Mindestabstand von 1,5 Metern zu Radfahrenden. Zumindest, wenn man Sicherheit als dehnbare Größe betrachtet.
Der Busfahrer, Linie 904, Kurs 113, rauschte trotz eines Fahrbahnteilers an mir vorbei. Schwer vorstellbar, da auf einer 3 Metern breiten Fahrbahn rechnerisch ein 2,5 Meter breiter Bus, ein 1,5 Meter gesetzlich geregelter seitlicher Abstand und ich nie Platz gehabt hätten. Sicherheit? Objektiv nicht vorhanden. Juristisch eine klare Sache:
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§ 15 Abs. 4 StVO verlangt ausreichenden seitlichen Abstand.
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Rechtsprechung (OGH 9 ObA 33/18b): innerorts mindestens 1,5 Meter.
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§ 26 Abs. 2a FSG macht das zur Pflicht.
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Und: Überholen ohne diesen Abstand ist schlicht unzulässig (§ 17 StVO).
Der Fahrer wusste das. Sein Kommentar an der Haltestelle: „Hob di eh g’sehn.“ Übersetzt: Ich habe dich wahrgenommen, aber trotzdem entschieden, dass dein Leben weniger wert ist als meine Pünktlichkeit. Als ich insistierte, legte er nach: „Is sich eh ausgegangen.“ Sprich: Ich hatte Glück. Und zum Schluss: „Zeig mich halt an.“ – begleitet von einem süffisanten Grinsen.
Roulette mit Menschenleben
Ich habe den Vorfall juristisch dokumentiert und an den Verkehrsverbund gemeldet. Die Antworten sind ein Lehrstück dafür, wie man Verantwortung elegant im Kreis schickt:
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Der Verkehrsverbund: „Wir sind nicht zuständig, bitte an die NÖVOG wenden.“ – oder anders gesagt: Danke für Ihren Hinweis, aber machen Sie Ihre Hausaufgaben bitte bei jemand anderem.
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Die NÖVOG, erste Antwort: „Wir entschuldigen uns, bitte schicken Sie uns die Liniennummer.“ – eine Information, die angesichts von Uhrzeit, Ort und Foto wohl auch intern auffindbar gewesen wäre. Für mich blieb der Eindruck: Recherchearbeit outsourcen, am besten an den Betroffenen selbst.
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Die NÖVOG, zweite Antwort:
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Der Fahrer habe den Mindestabstand eingehalten (was faktisch nicht möglich ist)
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Sicherheit sei auch „eine Frage des subjektiven Empfindens“.
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Die unangebrachten Aussagen des Fahrers bedaure man, man werde intern nochmals „auf Rücksichtnahme hinweisen“.
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Kurz: alles nicht so schlimm, nur ein Missverständnis im Kopf des Radfahrers.
Meine juristische Bewertung
Hier geht es nicht um Gefühle, sondern um Geometrie. Ein Linienbus ist rund 2,5 Meter breit. Addiert man 1,5 Meter Abstand zum Radfahrer, landet man bei 4 Metern. Die Straße misst 3. Objektiv unmöglich. Kein Empfinden, keine Interpretation – einfach nur Mathematik.
Dass die NÖVOG aus dieser faktischen Unmöglichkeit eine angeblich regelkonforme Handlung macht, ist mehr als absurd. Es ist eine Relativierung einer konkreten Lebensgefahr.
Rein rechtlich bleibt:
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Vorsatz (§ 5 StGB), weil der Fahrer mich gesehen hat und die Gefährdung bewusst in Kauf nahm.
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Gefährdung der körperlichen Sicherheit (§ 89 StGB).
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Arbeitsrechtlich: grober Pflichtenverstoß, da Busfahrer zu besonderer Sorgfalt verpflichtet sind.
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Zivilrechtlich: volle Haftung im Schadensfall (§§ 1295 ff. ABGB).
Fazit
Nach meinem Verständnis ist ein Überholmanöver auf einer etwa 3 Meter breiten Fahrbahn mit einem Linienbus von ca. 2,5 Metern Breite unter Einhaltung des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestabstandes von 1,5 Metern faktisch ausgeschlossen. Die notwendige Fahrbahnbreite übersteigt die tatsächlich vorhandene deutlich. Die Behauptung, ein solches Manöver sei möglich, entbehrt daher jeder realistischen Grundlage.
Es handelt sich hierbei nicht um eine Frage eines subjektiven Sicherheitsempfindens, sondern um eine objektiv nachvollziehbare, mathematisch belegbare Unmöglichkeit.
Aus dem Schreiben der NÖVOG (Kundendienst) entnehme ich, dass weder eine ernsthafte Aufklärung noch eine disziplinarische Prüfung des Sachverhalts beabsichtigt ist. Damit wird eine Handlung, die objektiv geeignet ist, eine Körperverletzung – im schlimmsten Fall mit tödlichem Ausgang – herbeizuführen, als Bagatelle eingestuft. Eine solche Bewertung ist nicht nur rechtlich fragwürdig, sondern auch in hohem Maße bedenklich und wirft erhebliche Zweifel an der Schutzfunktion dieser Verkehrsorganisation gegenüber den Verkehrsteilnehmern auf.
Mit tiefem Befremden und aufrichtigem Entsetzen muss ich feststellen, dass hier eine offensichtliche Gefährdung menschlichen Lebens verharmlost und relativiert wird. Es ist schwer nachvollziehbar, wie eine Institution, deren ureigene Aufgabe der Schutz der Allgemeinheit ist, eine derartige Gefährdung nicht nur hinnimmt, sondern faktisch legitimiert. Dieses Vorgehen hinterlässt nicht nur den Eindruck mangelnder Sensibilität, sondern auch den einer eklatanten Missachtung grundlegender Sicherheitsstandards.
Zusammengefasst
Ich musste erleben, dass ein Unternehmen und seine übergeordnete Organisation auf einen glasklaren Rechtsverstoß mit Zuständigkeits-Pingpong und Beschwichtigung reagieren. „Subjektives Sicherheitsempfinden“ ist hier kein Argument. Das Risiko war real, messbar und in Paragraphen gegossen.
Was bleibt, ist ein bitterer Nachgeschmack:
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Ein Fahrer, der Arroganz über Verantwortung stellt.
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Institutionen, die objektive Gefährdung verharmlosen.
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Ein System, das Glück zur Sicherheitsstrategie erhebt.
Und irgendwann, wenn dieses Glück versiegt, liegt jemand unter den Rädern. Dann heißt es wieder: „Hab den Radfahrer nicht gesehen.“
Meine Forderung:
Mehr als Forderung sind es Wünsche. Einfach mehr Miteinander. Mit Achtsamkeit und gegenseitigem Verständnis. Darüber hinaus aber auch Konsequenzen für jene, die sich nicht an Regeln halten können. Vor allem dann, wenn sie vorsätzlich Menschenleben gefährden.
Und weil bald Weihnachten ist, wünsche ich mir:
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Klare Konsequenzen für den Fahrer.
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Ein explizites Verbot für Überholmanöver, bei denen der Abstand objektiv nicht einhaltbar ist. Keine unnötigen Ausnahmen, die alles verkomplizieren.
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Eine Kommunikation, die Verantwortung übernimmt, statt sie zu relativieren.
Bis dahin bleibt mein Eindruck: Die NÖVOG und der Verkehrsverbund haben mir zwar geantwortet – aber nicht mir, sondern vor allem sich selbst einen Gefallen getan.
#ktrchts
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