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Neues aus der Hölle. Das Schlimme an einer Verletzung ist nicht die Verletzung.

Verletzung

Es gibt Wichtigeres. Es gibt Schlimmeres. Und es gibt Dringenderes. Leider gibt es aber auch eine Verletzung. Es gibt Hüfte und ein Becken, die nicht mehr das tun, was sie aus meiner Sicht tun sollten. Funktionieren. Rund funktionieren. Beim Rennradfahren. Lange Rennradfahren. Im Speziellen 235 km und 5.500 Höhenmeter. Nächsten Sonntag. Von Sölden bis Sölden. Bei prognostizierten traumhaften Bedingungen. Das tut weh. Mehr weh als die oben Besagten. Ich weiß. Es gibt echt Wichtigeres. Es gibt viel Schlimmeres. Und es gibt nochmals Dringenderes. Aber leider gibt es auch einen Ötztaler Radmarathon auf den ich möglicherweise verzichten werden muss.

Eine Verletzung ist so schlimm genug.

Bei den Dingen die nicht so einwandfrei funktionieren, handelt es sich um meine Hüfte und mein Becken. Beide Körperteile zusammengahalten und umgeben von vielen Weichteilen. Faszien, Sehnen, Muskeln. Ein ausgeklügeltes System, welches bei mir durch den wuchtigen Aufprall am Asphalt aus dem natürlichen Konzept geworfen worden ist. Mein gegenwärtiges System hat keine geregelten Abläufe mehr. Mein aktuelles System hat keine Selbstverständlichkeiten mehr. Mein beleidigtes System hat Prozesslücken. Mein Bewegungsystem muß nach einem Mißgeschick neu aufgesetzt werden. Ein Neustart dringend gesucht.

Mobilisation statt Degeneration.

Als ich vergangenen Samstag aus dem Krankenhaus entlassen worden bin, stand auf den Papieren bei Therapie „6 Wochen Entlastung“. Mehr nicht. Danke und Aufwiedersehen. Die Schulmedizin hatte ihre Pflicht erfüllt. Erstversorgung. Röntgen. Stationäre Aufnahme. Mal schauen. Entlassen. Part of the game. Part of the system. Gut, dass es die Schulmedizin gibt. Sehr gut, dass es das Gesundheitsystem gibt. Sonst würde ich ja noch am Feiersteig liegen.

Sechs Tage nach meiner Entlassung sitze ich in der Sonne auf der Terrasse und schreibe diesen Blog. Auf die Terrasse bin ich über die Wohnzimmertüre gelangt. Vier Stufen tiefer. Auf meinen Krücken. Gestern war ich 29 Minuten spazieren. Auch auf meinen Krücken. Ich stretche und dehne täglich. Die verschriebenen Schmerzmittel habe ich abgesetzt. Mobilisation ist besser als Degeneration. Mein rechter Fuß immer brav entlastet. Genau so wie die die Ärzte im Krankenhaus es befohlen haben. Das Liegen bekommt mir nicht. Die Nächte sind nach wie vor der Horror. Gerade liegen ist nicht mein Ding.

Wunder geschehen. Selten.

Ich bin weder Wunder noch irgendwas. Ich bin nur selbständig. Auch beruflich. Ich kann und will nicht sechs Wochen liegen und warten. Die Schulmedizin hat ein System, welches über alle Patienten umhüllt wird. Somit ist das System auch halbwegs finanzierbar. Patienten sind aber nicht alle gleich. Ich bin nicht alle. Ich habe sicher Glück gehabt. Ich habe drei Sollbruchstellen: Hüftpfanne, Schambein und Sitzbein. Alle drei weder durch noch glatt. Ich kann kaum was verschlechtern oder verschieben. So dumm mich nochmals von einem Meter Höhe mit 44 km/h auf den Boden zu werfen bin ich ja nicht. Meine Knochen werden schnell heilen. Sie wollen. Sie müssen.

Alles braucht seine Zeit. Gut Ding braucht Weile. Eine gute Heilung auch. Wenn es sechs Wochen sind, dann eben sechs. Wenn es mehr sein sollten, dann eben mehr. Wenn es schneller gehen wird, dann darf das auch sein. Mein Ziel ist, wieder beweglich zu werden. Jeden Tag mehr. Mein Ziel ist, weniger Schmerzen zu haben. Beim Niesen. Beim Husten. Beim Bewegen. Beim Urinieren. Beim Stuhlgang. Faszien, Muskeln und Sehnen müssen wieder geschmeidig werden. Diese schmerzen. Die kaputten Knochen nicht wirklich. Die sind ja entlastet. Mein System muss wieder einwandfrei funktionieren. Die Schulmedizin wird dashalb keine Hilfe sein. Sie will mich erst in drei Wochen wieder sehen. Um mich neu zu röntgen. Was ich jetzt brauche ist Physiotherapie und Osteopathie. Jetzt. Nicht in drei, vier oder sogar sechs Wochen, wenn die Schulmedizin mich als „geheilt“ aus ihrem System entlässt.

Das Schlimme an einer Verletzung ist ja nicht die Verletzung, sondern die Art, wie man damit umgeht.

Cristian aka @_ketterechts

PS: Mein Kopf wäre bereit, am Sonntag den Ötztaler Radmarathon zu fahren. Mein rechtes Bein nicht. Es ist noch nicht rasiert.

Verletzungspause. Schnell kann’s geehen.

Verletzungspause

„Fract. acetabuli dext. Fract. ram. inf. os. pubis. dext“ – auf gut deutsch Bruch der Beckenpfanne und Bruch des Schambeins. Beides rechts. So die nicht wirklich erfreuliche Diagnose nach der Einlieferung und dem Röntgen samt CT im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Eisenstadt. Behandlung: 6 Wochen liegen und rechtes Bein nicht belasten. Verletzungspause.

Die bis dato perfekte Saison 2016 ist somit abrupt zu Ende gegangen. Unfreiwillig. Knapp vor den Cyclassics in Hamburg und dem Ötztaler Radmarathon. Es kann echt schnell passieren. Und leider ist es echt schnell passiert. Shit happens.

Verletzungspause. Wie schwer wiegt das Wort Pause?

Donnerstag. 1800 Uhr. Die Gewitterfront über Eisenstadt verzieht sich. Die Sonne kommt wieder zum Vorschein. Ich entscheide mich, jetzt doch noch für eine kurze regenerative Ausfahrt. Wie immer wird die „furia rossa“ gecheckt. Luft einpumpen. Getränkeflasche und schon bin ich auf dem Weg hinauf zum Feiersteigweg. In der Sonne ist die Straße bereits trocken. In der Abfahrt merke ich, dass es nass ist. Ich fühle das Spritzwasser auf den Beinen. Deshalb suche ich bei der Abfahrt trockene Stellen. Die Straße an dieser Stelle ohne nennenswerte Kurven. Der Asphalt ganz ok. Bis dahin ist meine Erinnerung da. Dann wie ein Filmriss. Unterhalb der Hartl Lucke passiert es. Was genau kann ich nicht sagen. Ich fühle wie es mich hinten aushebt. Wie wenn jemand mit einem Schlag mein Hinterrad wegstößt. Ich falle nach vorne. Habe keine Chance irgendwas zu tun. Bin der Schwerkraft ausgeliefert. Es ist ein harter Aufschlag.

Die nächsten Bilder sind die, wie ich am Asphalt liege und  auf meiner Hüfte und den rechten Arm voraus nach unten rutsche. Mein Fahrrad halte ich in der linken Hand. Der rechte Fuß ist noch im Pedal. Es sind sicher 40/50 und sogar mehr Meter. Dieses Bild ist noch in meinem Kopf. Wie in Zeitlupe. Das Rutschen hat kein Ende. Als ich doch zum Stehen kommen, versuche ich meine Gedanken zu ordnen. Sofort kommt mir der Ötztaler Radmarathon in den Sinn. Ich fange an zu rechnen. Wie viele Tage habe ich noch, um mich von diesem Sturz zu erholen. Ich versuche den rechten Fuß aus den Pedal zu klicken. Habe keine Chance. Ich liege mit den Kopf talwärts nach unten. Das Rad auf mir. Nach ein paar Minuten bleibt ein Auto stehen. Eine Dame steigt aus. Ich bitte sie, mir zu helfen, den Fuß aus den Pedal zu geben. Die Drehbewegung ist ein höllischer Schmerz.

Die Hüfte zeigt eine für mich anormale Mulde.

Jetzt liege ich da. Beine Richtung oben, Kopf Richtung unten. Ich bin total verdreht. Kann das rechte Bein nicht bewegen. Ich checke den Rest meines Körper. Linkes Bein. Ok. Linkes Knie. Ok. Linke Zehen. Ok. Kopf. Ok. Arme. OK. Nur das Becken und die linke Hüfte lassen sich nicht bewegen. Die Hüfte zeigt eine für mich anormale Mulde. Ich taste die linke Seite ab. Dann die rechte. Versuche herauszufinden, ob es Unterschiede gibt. In der Zwischenzeit sind mehrere Leute da. Man berichtet mir, dass die Rettung bereits verständigt ist. Ich nehme mir den Helm ab. Und die Brille. Aus der Trikottasche nehme ich mein Handy und rufe die Rennschnecke an. Sie wohnt nicht weit weg. Sie soll mein Fahrrad holen.

Auch ein Polizist ist da. „Sind sie allein gestürzt?“ Ja. Bin ich. Ich habe höllische Schmerzen. Der Schock lässt auch schon nach. Mir ist kalt. Ich liege auf nassem Asphalt. Nach 20 Minuten ist die Rettung da. Die Rennschnecke war schneller. Mein Fahrrad ist somit in guten Händen. Die Sanitäter steigen aus. Erstes Abtasten. „Wo tut es weh?“ Ich kann den Schmerz ganz genau lokalisieren. Gebe Entwarnung, was alles andere betrifft. Der Versuch, mir die Suplest Radschuhe mit dem boa closure system zu öffnen entpupt sich für den Sanitärer als hoffnungsloser Fall. Mit meiner Schnellschulung löst sich auch dieses Problem. Jetzt will man mir die Socken aufschneiden. Mein energisches Veto verhindert Schlimmeres. Da ich keine Schmerzen in den Zehen habe, können die Socken auf dem herkömmlichen Weg entfernt werden.

Ich liege immer noch am Asphalt. Die Sanitäter grübeln, wie sie mich in das Rettungsauto heben sollen. Ich sehe nur, dass neben mir die Krankentrage samt Vakuummatratze auf 40 cm Höhe dasteht. Da komme ich ohne zu sterben nie rauf. Zum Glück gibt es die Schaufeltrage. Diese wird in zwei Teilen zerlegt und mir links und rechts unter den Körper geschoben. Dabei muss ich meine rechte Seite nur ein wenig heben. Mit der Schaufeltrage lande ich auf der Krankentrage und dann im Rettungsauto. Die Schmerzen sind höllisch. Auf der Fahrt ins Krankenhaus spüre ich jeden Stein. Ich fühle mich wie die Prinzessin auf der Erbse.

Sanft ist was Anderes. Schmerzfrei auch.

Notfallambulanz. Ich liege auf der Trage, so wie ich nach dem Sturz zum Stehen gekommen bin. Es ist mittlerweile bereits nach 1900 Uhr. Ich werde von der Krankentrage auf ein Krankenbett gehievt. Sanft ist was Anderes. Schmerzfrei auch. Der Turnusarzt schickt mich zum Röntgen. Dazu muss ich vom Krankenbett auf den Röntgentisch. Und wieder zurück. Das selbe beim CT. Vom Krankenbett in die CT Röhre und wieder zurück. Autsch.

Dann die Diagnose. Siehe oben. Stationäre Aufnahme im Krankenhaus. Erst jetzt bekomme ich Schmerzmittel. Intravenös.

Und blasn’s, aber schnell“

Plötzlich tauchen zwei Polizeibeamte auf. Ich muss zum Alkoholtest. Alkoholtest? Ja. Bei einem Verkehrsunfall ist das so üblich. Auch mit dem Fahrrad. Ohne Fremdverschulden. Ohne Mitwirkung anderer. Beschäftigungstherapie? Scheint so. Ich sehe keinen Sinn darin. Aber. Dem Gesetzt darf man sich nicht eugen. Mein Bett wird von den Beamten aus dem Zimmer geschoben. In Gang in einer Nebennische wird der Alkomat gestartet. Es dauert 5 Minuten bis dieser bereit ist. Die Polizisten erhählen mir von anderen Radunfällen. Mich interessiert das nicht. Mich beschäftigt nach wie vor mein eigener. Dann darf ich blasen. Nach dem Piepston. Bis zum nächsten Piepston. In einem Zug. Ich puste. Es piepst. Ein Beamter stoppt mich. „Genug“. Das ganze muss wiederholt werden. Also nochmals. Piepsen. Pusten. Piepsen. Das Ergebnis: 0,0 Promille. 2,8 l Puste. 1,6 l wären erforderlich gewesen. Ein Beamter klärt mich auf, dass 2,8 ein sehr guter Wert sind. Viele hätten Schwierigkeiten die 1,6 zu erreiche. Ich kann nur lachen. Bei 5,0 l Lungenvolumen habe ich mich ja gar nicht angestrengt. Jetzt bringen ich die Beamten das Bett mit mir zurück ins Zimmer. Schlangenlinienförmig. Ich schlage vor, beide einem Alkoholtest zu unterziehen. Sie lächeln.

Die erste Nacht eine Katastrophe. Mein Körper kann sich nicht bewegen. Will aber. Und er sucht nach einer Stellung, die keine Schmerzen bereitet. Findet diese aber nicht. Der Morgen kommt in langsamen Schritten. Ich liege. Genau so wie knapp 12 Stunden früher am Asphalt. Meine Blase ist voll. Urinieren funktioniert aber nicht. Visite. Man informiert mich. Und man gibt mir keine rosige Aussichten. Vormittags besucht mich auch der Physiotherapeut. Er schult mich. Was darf ich. Was darf ich nicht. Er will mich auf Krücken stellen. Keine Chance. Mein Körper streikt. Ich vertröste ihn auf morgen. Er meint, dass am Wochenende keiner da ist.

Am Nachmittag weiterer Besuch von zwei Physiotherapeutinnen. Sie erklären mir, dass wenn ich nicht zeigen kann, dass ich mit Krücken gehen kann, eine Entlassung kaum möglich ist. Ich raffe mich auf. So schnell können die Damen nicht schauen, gehe ich mit Krücken durch das Zimmer. Dann erwerbe ich gleich noch diese zwei Krücken.

Die zweite Nacht bricht ein. Diesmal sind es nicht die Schmerzen, die mich schlaflos machen. Es ist der Zimmernachbar. Er sägt die ganze Nacht. Einen kompletten Wald. Ich kann nicht schlafen. Ich schaue von 2200 Uhr bis 0530 Uhr fern. Olympia. Badminton der Frauen. Golf der Frauen. Usain Bolt und seine Staffel. Ich schaue alles, was möglich ist. Die Auswahl ist gering. Um 0530 Uhr kommt die Schwester. Die Nacht ist um. Frühstück erst um 0700 Uhr. Um 1000 Uhr Visite. Ich darf heimgehen. Ich muss 6 Wochen das rechte Bein entlasten. Nach 4 Wochen nochmals röntgen.

Jetzt heißt es Geduld haben. Gegen die Thrombose ankämpfen. Und gegen den Muskelschwund. Etwas Oberkörpertraining macht sicher Sinn. Und dann? Dann mal sehen, wie sehr die 6 schulmedizinischen Wochen gekürzt werden können. Leichtes Ergometertraining sollte ja früher möglich sein. Aber bitte nicht weitererzählen.

Cristian Gemmato aka @_ketterechts
#ketterechts #comebackstrongher

PS: dem Rad geht es verhältnismäßig gut. Ich habe es mit vollstem Körpereinsatz geschützt. Der rechte Ergopowerhebel ist leicht nach innen verbogen. Die Niete des Schalthebels ziemlich geschliffen. Schaltwerk scheint ok zu sein. Lackschäden so gut wie keine. Das Rad bräuchte keine Verletzungspause.