Freiwillig. Widerwillig. Durchsetzungswillig. |
25. August 2013. 4:00 Uhr Morgens. Der wunderbar heiße und radfahrerfreundliche Sommer hat sich über Nacht verabschiedet. Wie das Amen im Gebet. Justament vor dem Start des Ötztaler Radmarathons 2013. Who cares. Ich bin schon mal munter. Also gehe ich frühstücken. Zwei Semmel mit Butter und Marmelade. Eines mit Butter und Honig. Alle drei sauber ausgeputzt. Ohne Innereien. Dazu Kaffee. Logisch. Die Entscheidung trotz des Sauwetters zu fahren war bereits längst gefallen. Ein DNS stand gar nie zur Diskussion.
Meine Arbeitsbekleidung hatte ich mir bereits tags zuvor akribisch zurechtgelegt. Eigentlich hätte ich auch eine Antarktis-Expediton fahren können. 3/4 meines Radfahrer Kleiderschrankes hatten mit mir die Reise nach Sölden angetreten. Trotzdem wurde das eine und andere Puzzlestück am Vortag noch mit Einkäufen ergänzt. So habe ich mir bei Palmers eine Damenleggins gekauft. 98% Lycra. Sollte meine Beine vor Kälte schützen. Beinlinge sind nicht mein Ding. Damit friere ich im Schritt. Und eine zweite dünne Schutzschicht war es mir wert. Und ich habe mir erstmals im Leben Radsocken gekauft, die ich normalerweise nie anziehen würde. Nächmlich die etwas längeren. Bis knapp Mitte Wade. Ein No-Go. Aber beim Tragen von Regenüberschuhen ein Hit. Man vermeidet Abschürfungen durch den Reißverschluss. Für Detailverliebte: CRAFT Kurzarm Windstopper Radunterwäsche, Palmers Leggins, Radsocken, Radhosen, Kurzarm Radtrikot, Ärmlinge, dünner Windbreaker, dünne langarm Windjacke, langfinger Handschuhe, Radüberschuhe für Regen. Und ein Tube Halstuch über Kopf und Ohren. Insgesamt wohl an die 5 kg im trockenem Zustand.
Es ist 6.00 Uhr. Noch 45 Minuten bis zum Start. Es regnet stark. Ich finde Unterschlupf in einem 110l schwarzen Müllsack. Hals und Arme ausgeschnitten. Und ich rolle zum Start. Nach ca. 100 Metern bin ich bereits nass. Als alter Fuchs weiß ich wo ich mich aufstelle. Diesmal ist es schwieriger. Blockieren jede Menge Regenschirme nicht nur die Sicht, sondern auch das Weiterkommen. Man stelle sich an die 3000 Radfahrer und nochmals so viele persönliche Betreuer vor. Weibliche. Der Mann fährt. Die Frau hält trocken. Rollenverteilung beim Ötztaler. Seit Jahren. Von den ca. 2.300 klassifizierten Fahrern waren 83 Frauen.
6.45 Uhr. Es geht los. Die knapp 40 km von Sölden nach Ötz werden halbwegs diszipliniert gefahren. Danke an alle rund um mich. Es regnet immer noch. Entlang der Strecke viele Zuseher. Und Gegenverkehr. Starter, welche es sich anders überlegt haben. Vernünftig. Mein Müllsack schützt mich. Die zwei Kehren kurz vor Ötz fahre ich in Super-Slow-Motion. Vorne Most Wildcat Alu und hinten Bora One Carbon. Beide bediene ich mit Campa Original Carbon Bremsbelege. Vergebens. Bremsleistung bereits jetzt bei knapp Null. Die Straße ist ein Bach.
Knapp 41 Minuten brauche ich bevor ich rechts in den Berg abbiege. Ich entledige mich des Müllsackes. Es geht 18 km hinauf. Und es regnet immer noch. Das bestens gepflegte Rad war einmal. Die Kette schmiert schon lange nicht mehr. Es ist laut. Entweder ist das mein Rad, oder es sind die anderen Räder. Dass es immer noch regnet brauche ich nicht zu erwähnen. Aber es geht bergauf. Das wärmt von innen. Meine Kleidung bereits um 5 kg schwerer. Voll durchnässt. Ich spüre das Wasser am Steißbein. Je näher ich der Waldgrenze komme, desto näher komme ich auch an den Schnee. Dieser hat sich bis ca. 2.200 Metern heruntergewagt. Das Kühtai liegt auf 2.000 Metern. Es hat knapp 3 Grad. Zum Glück Plus. Ich habe Mühe beim Fotografen zu Posen. Mir ist kalt. Den Pass erreiche ich noch unter 2 Stunden. Grenzgenial. Oben labe ich mich das erste Mal. Eine warme Suppe bitte. Getränke muss ich nicht auffüllen. Habe wohl vergessen zu trinken. Detail am Rande. Bin nur mit einer 0,75l Flasche gestartet. In der zweiten Halterung mein Repair Kit und meine Gels.
Ich fürchte mich vor der Abfahrt nach Kematen. Zu Recht. Weiterhin Regen. Starker Regen. Bäche kreuz und quer über die Straße. Viehsperren. Und mein Nacken samt Kiefer starr. Ich kann mit nicht umdrehen um zu sehen, ob ich verfolgt, überholt oder überfahren werde. Und ich zittere. Meine Arme und meine Beine sind unkontrollierbar. Mein Rad auch. Das kriegt alles mit und überträgt es auf den Asphalt. Ich habe Mühe eine gerade Linie zu fahren. Außer in dern Kurven. Dort habe ich Mühe diese zu fahren. Bremsleistung nach wie vor Null. Und es geht steil bergab. Ich bin mit den Bremsen am Anschlag. Aber es wird nicht langsamer. Auch das Dosieren geht nicht. Bis ich checke, dass ich meinen Hintern etwas heben sollte, um den Schwerpunkt nach vorne zu verlagern. Das nimmt Gewicht vom Hinterrad. Und siehe da. Ich kann halbwegs bremsen. Blöd, dass ich bereits in Kematen bin.
Von Kematen nach Innsbruck fahre ich allein. Vor mir niemand. Hinter mir niemand. Normalerweise bretterst du da hier im Packerl dahin. Also Kette rechts und vollgas. Es geht durch Völs. Allein. Es geht durch Innsbruck. Allein. Es fühlt sich so an, als wäre ich Führender. Oder Nachzügler. Aller Applaus gehört nur mir. Und der Regen ist auf einmal warm. Im Vergleich zum Kühtai. Ich stelle mir vor in einem Sommergewitter zu sein. Die Motivation steigt.
Es geht hinauf nach Schönberg. Ich bin immer noch allein. Wo sind sie denn alle. Vorbei an der Abzweigung nach Mutters. Immer noch allein. So fahre ich ein reduziertes Tempo. Ich muss ja nicht allein da rauf. Knapp kurz vor dem Anstieg dann eine Gruppe mit ca. 8 – 10 Fahrern. Aber die sind mir zu langsam. Also mache ich das Tempo. Es geht unter der Europabrücke durch. Mittelschwer bergauf. Mein Puls immer konstant unter 160. Hier kann man gerne überpacen. Ach ja. Es regnet immer noch.
Richtung Matrei will ich essen. Finde aber schwer zu meinen Gels. Alles ist nass und mit den dicken Handschuhen habe ich keine Haptik. Beim dritten Versuch ergreife ich ein Peeroton Gel. Zwei sind irgendwo auf der Straße. € 4, 38 Verlust. Das Ganze passiert auf der linken Seite der Fahrbahn. Zum Glück ist sie gesperrt. Der Himmel ist jetzt nicht mehr grau. Kleine weiße Fenster sind sichtbar. Und je näher ich mich dem Brenner nähere auch blaue. Wir fahren auf eine größere Gruppe auf. Die „meinbezirk.at“ Fanmeile mit Musik und Fans verleitet jetzt ein paar zur Tempoverschärfung. Mitziehen. Gries am Brenner. Die Sonne blinzelt durch. Die letzten 2 Steigungen hinauf auf den Brenner. Hier stehen Betreuer über Betreuer. Noch mehr als am Kühtai. Ach hätte ich jetzt auch gerne was zum Umziehen. Rennzeit 4h18 Minuten. Plansoll.
Die Labe hinterm Brenner nehme ich mir zur Brust. Nudelsuppe. Ein paar Stück Kuchen. Und ein paar Witze. Ich frage nach einem Fön und nach einem Wienerschnitzel. Der Schmäh rennt. Die Helfer leiden mit uns mit. Getränke nachfüllen. Und Pinkeln. Die Zeit vergeht. Der Körper hat längst schon auf Durchkommen umgeschaltet. Es geht jetzt ums Überleben. 120 km sind passè. 110 km warten. Mit Jaufenpass udn Timmelsjoch.
Bei der Rückkehr auf die Straße dann noch was für die Spannung. Es geht über eine Holzbrücke. Beim überfahren dieser im 90 Grad Winkel rutscht mein Hinterrad. Ich drifte. Die Bora bleibt zwischen den Ritzen der Holzbretter stecken. Und mich wirft es fast ab. Wie ich es geschaft habe, das feuchte und faule Holz nicht zu küssen bleibt mir ein Rätsel. Applaus vom Streckenposten. Ich bin halt ein Poser. Es geht weiter.
… Fortsetzung folgt.
[…] ich mich aber nicht. Nicht damals und auch nicht die vielen Jahre danach. Nicht einmal 2003 und 2013 war es mir wert, auszusteigen. Beide Male bei Sauwetter und Regen bereits zum Start in Sölden. […]