„Gianni!! „Franco?“ „Andrea!“ „Dove sei Gianni!“ „Qui Franco?“ „Valentina?“ Wenige Minuten nach dem Start bekomme ich neben dem Surren carbonfasergetränkter Laufräder eine Auswahl bekannter italienischer, vorwiegend männlicher Vornamen zu Gehör. Dass Italiener am liebsten in Rudeln auftreten ist ja bekannt. Bei knapp 4.000 Startern der Granfondo Pinarello müssen sich diese Rudeln erst bilden. Genau diese Rudelbildungen prägen die ersten Kilometer stadtauswärts Richtung Spresiano. Die Piazza del Grano platzt aus allen Nähten. Der Startschuss ist längst gefallen. Noch stehe ich mit beiden Beinen am Boden. irgendwo weit hinten. Treviso erwacht gerade aus der lethargischen Nachtruhe auf. Der Mythos Pinarello schlägt ein neues Kapital auf. „LaPinarello“, vom Veranstalter auch liebevoll „LaPina“ genannt, geht mit mir in die 21ste Auflage.
Ausflug zur Mutter aller Radmarathons.
An der Anreise und der Akklimatisierung ist wenig auszusetzen. Treviso ist für Italokundige leicht zu finden. Das Hotel mit Navi auch. Autosuggestives Parkplatz finden funtkioniert in Italien nicht immer. Wenn man daran glaubt, schon. Die Kurzparkzonen sind leistbar, auch wenn man beim Ticketing der Sprache mächtig sein sollte. In Treviso muss man zuerst die Nummer des gewählten Parkplatzes in den Automaten eintippen. Erst dann gibt es ein Ticket fürs Geld. Und man muss unterscheiden. Kurzparkzone oder Kurz-Kurzparkzone. Letzere erlaubt nur 20 Minuten. Ein Mal pro Halbtag. Capito?
Den Stadtkern – umgeben von einer imposanten Stadtmauer, erlebt man am besten per pedes. Von der Mitte aus sind es 10 bis maximal 15 Minuten in alle Richtungen, bis man dort anstößt. Die Orientierung ist nicht schwer. Einmal die Stadtmauer erreicht, einfach links, rechts oder retour. Man kommt schnell wieder dorthin, wo man schon einmal gewesen ist. Die Fläche, sich zu verlieren ist minimal. Und sollte man den Weg zurück doch nicht mehr finden, erleichtern die vielen Eissalons und Bars das Traurigsein. „Patatine“, die man zum Prosecco, dem Wein oder dem Apreol Spritz serviert bekommt auch. Veganer und Bioaner werden die Stadt auch lieben. Selten so viel Biogenes gesehen. Mein Tipp „soffioni„. Der Thunfischburger Bio 9, ein Traum.
Granfondo Pinarello – la „famiglia“ feiert sich selbst.
Freitag, 14. Juli 2017. Piazza del Grano, Borgo Mazzini. Dort, wo die Hölle los sein sollte, ist noch gähnende Leere. Ein großes weißes Zelt ist gegen zwei Uhr Nachmittags das höchste der Gefühle. Hier soll es ab fünf Uhr eine Expo geben? Ok. Italiener sind wohl die Meister der Improvisation. Ich besuche also den Pinarello Shop nebenan. Ja. Den Pinarello Shop in Treviso. Dieser ist so klein, dass ich zwischen der Castelli Wäsche mit Sky branding fast ersticke. Daneben ein paar Zubehörteile und jede Menge selbstinzenierender Fotos. Der zweite Raum ist auch nicht größer. Dafür bunter. Zeit für Radklamotten habe ich keine. Warum denn auch.
Ich erblicke die Hintertür. Diese führt in einen weiteren Pinarello Shop. Ein Outlet. Was ich dort finde ist auch nicht mehr als reduzierte Ware in den Größen 2XXL aufwärts. Was die letzten Jahre an eigener Panier nicht verkauft werden konnte, ist hier gelandet. Alle farblichen Anti-Trends quasi. War’s das? Ja. Für mich. Die Werkstatt nebenan hatte ich nicht auf der Rechnung und somit auch nicht im Visier. Die neusten Pinarello Modelle (F10, F10 Disk …) verpasst. Selber Schuld. Ganz Schlecht vorbereitet. Negativ. Setzen.
Wer italienisch denkt, findet sich im Chaos zurecht.
Mehrere caffè vergnano und Aperols später ist die Expo pünktlich um 1700 aufgebaut. Auch die Startnummern sind erhältlich. Es herrscht wie gewohnt ein geordnetes Chaos. Wer italienisch denken kann, findet sich hier zurecht. Auf einer riesen Tafel gibt es die zugewiesene Startnummer, mit dieser dann den richtigen Schalter. Nach sieben Unterschriften und einer einwandfreien, wenn auch dominanten Erklärung, dass ich das ärztliche Attest bereits wie in der Ausschreibung gewollt, per Email verschickt habe und die Tageslizenz mit dem Startgeld von € 72,- auch schon überwiesen habe, bekome ich das Starterpaket, die Startnummer und die Tageslizenz. Auf dem Kuvert mit dem Startnummer steht in großen Lettern: „Ärztliches Attest OK. Tageslinzenz bezahlt“. Die € 10,- Miete für den Chip sind an einem weiteren Schalter mit kurzer Wartezeit zu verschmerzen.
Mit Mortadella, Ricola Kräuterzückerln. luftdicht verpacktem Käse, einer Schnitzelpanier, Bavaria Bier und einer Enervit Flasche sowie einem Pastaguschein erkunde ich die Expo. Giordana, Pinarello mit mageren 3 Rädern, Rudis Porject Brillen und Helme, Shimano Servicestation, Enervit, Ricola und Selle Italia sind da. Und ich gleich wieder weg.
Nerven aus Stahl. Das zeichnet Rennradfahrer aus.
Sonntag, 16. Juli 2017. Bereits um 0645 stehe ich an vorderster Front in der Startreihe. „Griglia nera“, also die Nummern 2990 bis 4000. Das ist die Zweitletzte. Eine Stunde bis zum Start. Es ist nicht zu kalt. Zum Glück. Es dauert nicht lange und hinter mir füllt sich Borgo Mazzini. Über den Lautsprechern ertönen pathetische Parolen. Danke, super, gemeinsam, traumhaft … das Glück muss ein Rennradfahrer sein. Zumindest meint das der Sprecher.
Die Zeit vergeht. Meine Aufmerksamkeit gehört meinem hinteren Laufrad. Gestern gegen 2300 Uhr habe ich im Hotel noch den Schlauchreifen gewechselt. Zu riskant war es mir geworden. Aus zwei kleinen Löchern am neuen Vittoria Graphene zischte immer wieder Luf raus. Der Reifen war schnell von 10 auf sechs Bar. reduziert. Der alte Vittoria Corsa Evo CX bekam eine neue Chance. Graphene mit Effetto Mariposa Carogna Klebeband problemlos entfernt, Vittoria Magic Mastik drauf und dann das rettende Runde. Sieben Stunden Klebezeit sollten reichen. Nerven aus Stahl muss man haben. Kurz vor dem Start war das hintere Laufrad immer noch dickfest.
Es kann losgehen. Zuerst überhaupt nicht. Dann stockend bis schiebend. Zwei Mal ums Eck. Erst nach ca. 10 Minuten die erlösende Zeitmatte. Pronti, via.
Die Goldene Ananas ist ganz schön gefährlich.
Die ersten 30 km kerzengerade und ohne nennenswerter Höhenmeter. Das Tempo gleich hoch. Sehr hoch. Die Goldene Ananas wird hier schon vergeben. Als ginge es darum für Peter Sagen den Sprint anzuziehen, fliegen bunte Radtrikots links und rechts an mir vorbei. Die auffälligsten konnte ich mir merken und am ersten Berg wieder überholen. Dass so eine sinnlose Bolzerei nicht notwendig ist, zeigen die vielen RennradfahrerInnen, die ich auf diesem Teil der Strecke bereits kreuz und quer über die breite Straße liegen sehe.
Das Rennen nicht einmal 30 Minuten alt. Eine Dame mit ihrem pinkfarbenen Pinarello Dogma und pinkfarbenen Trikot liegt am Bauch mit dem Kopf nach unten regunslos am Asphalt. Spätestens jetzt schalte ich von Rennmodus auf Sonntagsausflugmodus um. 4000 rennhungrige (kurze und lange Strecke starten gemeinsam) Fahrer sind auf so einer Straße mit Gegenverkehr (so mancher ließ sich nicht aufhalten trotzdem gegen die Rennrichtung zu fahren), Verkehrsinseln und Längsrillen ein paar zu viele. Eine selektierende Steigung ganz zu Beginn findet man hier nicht.
Prosecco und Schweiß. So schön kann Dolce Vita sein.
Bei km 40 trennt sich dann die Spreu vom Weizen. Kurz davor war noch an ein paar kleinen Hügerln Stau. Wie auf der Wiener Südosttangente. Mit Fahrern, die von ihren Rennrädern gefallen sind, weil ein 50 Kettenblatt aufwärts doch zu stark ist, oder ein plötzliches Schalten von 50/28 auf 34/28 die Kette abwirft. Danach plötzlich Einzelzeitfahren Richtng Caneva zum ersten Berg. Die Strecke ein ständiges Zick-Zack auf Straßen, die ich lieber mit dem Crosser fahren würde. Mit giftigen kurzen Anstiegen vorbei an Betonwerken. Proseccoland, wo bist du?
Der Schock ob der unidyllischen Landschaft vergeht schnell am Anstieg hinauf zur „Foresta del Cansiglio“. Knapp 13 km bergauf. Mit ständigem Blick Richtung Adriatischem Meer und der Bucht von Venedig. Die Steigung moderat. Kehre für Kehre geht es nach oben. Ich passiere links und rechts die gut erkennbaren Pinarello Händler mit ihren speziallackierten Dogmas F10 (#GFP17) und den einheitlichen Trikots. Aus aller Welt sind sie gekommen. Mehr als 300 Räder hat Pinarello dafür springen lassen. Aus Insiderkreisen weiß ich, dass diese Räder dann mit den Händlern die Rückreise antreten dürfen.
Italiener nutzen gerne den Windschatten. Auch meinen.
Ich muss hier einen starken Eindruck hinterlassen. Denn immer mehr Windschattenfahrer finden Gefallen an meinem Hinterrad. Und das bergauf. So ziehe ich eine fette Meute hinauf auf den Berg, der mit der zweiten von vielen Labstationen auf knapp über 1000m Seehöhe endet. Sogar ein japanischer Pinarello Händler gesellt sich zu mir. Begleitet von einem Fotografen am Motorrad. Er fotografiert ihn. Und mich. Jetzt warte ich darauf, in Japan eine Star Karrier starten zu können.
Die lange Abfahrt hinunter nach Vittorio Veneto nichts für schwache Nerven. Dieser Teil der Strecke ist nicht gesperrt. Mitten im Wochenend-Ausflugs-Verkehr geht es halsbrecherisch nach unten. Teilweise ist ein Überholen von Autos nicht möglich. Gegenverkehr sei Dank. Ich riskiere nichts und genieße trevigianische Abgase. In Vittorio Veneto selber muß ich dann sogar an einer roten Ampel stehen bleiben. Auf Anweisung eines Stadpolizisten. Streng nach Vorschrift. Erst bei grün darf ich weiter zum nächsten Hügel. Drei km über San Lorenzo mit dem selben Spiel. Italiener nutzen gerne den Windschatten. Auch meinen.
Giro Feeling – mit viel Phantasie.
Muro Cà del Poggio. Spezielwertung. Das Rennen im Rennen. 0,8 km mit einem Schnitt von 17%. Ein Kreisverkehr, erste Ausfahrt rechts und plötzlich ein riesiger Garmin Bogen. Dahinter eine Mauer. Was die Veranstalter als Highlight verkaufen wollen, ist in Wirklichkeit das, was ich jedes Wochenende habe, wenn ich in Eisenstadt die Gloriettallee hinauffahre. Mit mehr Publikum mehr Fotografen und mit Nibali Aufschriften am Boden. Nichts besonders, aber ok. Marketing ist alles und alles ist nichts ohne Marketing. Also ich oben ankomme, war der Sprecher samt DJ schon beim einpacken. Letzte Klänge und ein „Grazie, ci vediamo in Piazza del Grano“ habe ich noch mitgehört. 13 km/h im Schnitt war meine performance hier herauf. Der Schnellste ist mit einem Schnitt von knapp 20 km/h heraufgeflogen. Die Italiener hätten doch dessen Windschatten nutzen sollen.
Zur Feier des Tages gönne ich mir 0,5 Liter Pepsi cola und ein Glas mit aufgelöstem Salz. Noch knapp über 40 km bis ins Ziel.
Heimwärts mit dem Russen-Express.
Die letzten Kilometer nochmals ein Einzelzeitfahren. Allein auf weiter Flur hauche ich mir die Landschaft und so manche ungesicherte Kreuzung ein. Bis zur letzten Steigung. Hier schließe ich auf 3 Russen auf, die ich schon mehrmals, immer wieder vor und hinter mir hatte. Einer von denen macht einen sehr starken Eindruck. Holte für die anderen zwei immer wieder Wasser und motivierte sie. Der Edelhelfer, den ich nie hatte.
Auf das Bier an der letzten Labestation verzichte ich. Statt dessen überhole ich erneut die Russen am Berg und setze mich in der Abfahrt allein Richtung Treviso ab. Zurück auf der langen Geraden stadteinwärts, gebe ich diesen Plan aber auf. Die Gruppe vor mir ist so nicht einzuholen und der Feind längst schon im Nacken. Bei der 15 km Marke resigniere ich. Nehme Tempo raus und warte auf den heranrasenden Russen Express. Jetzt geht so richtig die Post ab. Jenseits der 40 km/h nähern wir uns Treviso. Rote Ampeln können uns nicht stoppen. Auch die Gruppe vor uns muß dran glauben. Zwei km vor dem Ziel. ist sie gestellt.
Dank russischer Wattleistung bin ich nach 4h57min Fahrzeit auf 144 km und 2.300 Höhenmetern gesund im Ziel. Mit der Bruttozeit von 5h07min lande ich auf Platz 438 von über 1.400 Gesamtstarter „percorso lungo“ und auf Platz 88 in der Kategroie M4. Nicht schlecht für einen Sonntagsausflug. Ach ja: Bei der Granfondo Pinarello zählt die Bruttozeit für die Gesamtwertung und die Nettozeit (realtime) für die Kategoriewertung. Warum auch immer.
Insegamt 10 Leute mussten am Sonntag in die umliegenden Krankenhäuser eingeliefert werden. Und auch Raddiebe haben in Treviso ihr Unwensen getrieben. Berichte von Diebstählen aus geparkten Autos und vom Zielgelände machen in den sozialen Netzwerken die Runde. Leider.
Ende gut. Treviso gut.
Ich hatte hohe Erwartungen. Nicht an mich. An die Veranstaltung selber. Und ich weiß nicht so recht, ob diese erfüllt worden sind. Ein wenig mager war die Stimmung in der Stadt. Auch das Gesellige im Zielbereich hat mir gefehlt. Und Pinarello hat nur gekleckert. Nicht einmal eine Pinarello Trinkflasche gehört jetzt mir. Fahre ich halt mit der Colnage Flasche. Granfondo Colnago oder Granfondo Pinarallo? Urteilt selber.
Auf alle Fälle sind das Essen in Treviso und Desenzano del Garda am selben Niveau. Wenn man Insidertipps hat. Wie zum Beispiel die pizzeria e ristorante „Frank Bracca“ in Nervesa della Battaglia. Und das ist ja das Wichtigste, wenn man in Italien eine Granfondo fahren möchte. Neben gutem caffè darf das nicht fehlen Der Rest ist Draufgabe.
ktrchts
PS 1: Für alle strava Fans hier der track.
[…] Was den Berg und die Gegend für Rennradfahrer so reizvoll macht, sind die 10+1 Anstiege hinauf zur Cima Grappa, der „Altipiano di Asiago“ gleich nebenan und der Monte Cesan in Reichweite. Auch der Passo San Boldo, die Foresta del Cansiglio, der bei Einheimischen sehr beliebte Anstieg San Lorenzo bei Vittorio Veneto sowie der Montello können in diverse Tagestouren eingebaut werden. Die ersten drei Anstiege waren heuer Schauplatz der Granfondo Pinarello. […]
[…] spannendes wie auch kilometerreiches Radjahr mit vielen Highlights. Der Ötztaler Radmarathon, die Granfondo Pinarello, die Lakemania, der Mythos Monte Grappa, die Heimat Südtirol um nur ein paar zu nennen. Ich durfte […]