Kühtai. 2.017 Meter hoch. Es ist kurz vor 9 Uhr. Die Wolken hängen tief. Das wunderbare Bergpanorama versteckt sich hinter einem düsteren grauen Schleier. Ungetrübt ist hier oben am Berg zu diesem Zeitpunkt nur die Stimmung. Fans und Betreuer hüpfen, klatschen und schreien. Nicht wegen mir. Vielleicht wegen der knapp 5° feuchtkalten Temperaturen. Es regnet. Nein, es schüttet mittlerweile. Entgegen aller Wetterprognosen. Diese waren die vergangenen Tage eine Achterbahn der Gefühle mit Happy End in Gestalt von Wetterfee Lisa Brunnbauer. Ihre Worte bei der Fahrerbesprechung fühlten sich an wie eine hochsommerliche Brise inmitten des in Sölden heimgekehrten Winters. Die Worte „trocken“ und „Aufhellungen“ genügten, um massenweise ganze Felsbrocken von den Herzen der 4.112 auf Erlösung Wartenden fallen zu lassen. Trotzdem wird der Ötztaler Radmarathon 2018 in seiner 38. Auflage als einer der härtesten in die Mythologie eingehen.
Das einzig Sichere am Wetter ist die Unsicherheit.
Übers Wetter reden viele. Beim Ötztaler Radmarathon alle. In diesem Jahr noch mehr. Auslöser war die Großwetterlage. Seit Wochen ist die Entwicklung bekannt. Hitzeschlacht wird es keine. Der Hochsommer hatte sich pünktlich verabschiedet. Schnee? Regen? Kälte? Die verschiedensten Wetter-Apps schwanken zwischen allem, was für eine Prognose zu Verfügung stehen kann. Niemand will sich festlegen, niemand kann sich festlegen. Spannend. Speziell. Unsicher. Im kleinen Bergdorf Sölden fast am Ende des Ötztals gibt es schon Wartelisten für Regenüberschuhe und Handschuhe. Das einzig Sichere am Wetter ist die Unsicherheit. So stehen um 6:45 Uhr Optimisten, Pessimisten und ich gleichermaßen gespannt am Start. Noch ist es trocken. Irgendwo und irgendwann werden wir nass werden.
Die Startvorbereitung wie immer ein Stelldichein Prominenter und Hobbyisten. Die einen werden persönlich begrüßt, die anderen verschwinden anonym in der Masse knalliger Regenjacken. Der frühe Vogel fängt den vordersten Startplatz. Wer zuletzt kommt, der steht hinter der 1000m Marke an der Talstation der Gaislachkogelbahn. Noch 10 Sekunden bis zum Start. Zweisprachige Moderation aus allen Lautsprechern. Der TV-Hubschrauber kreist. Ein lauter Knall und das Feld bewegt sich neutralisiert von vorne nach hinten über die Zeitnehmungsmatte bei km 0. Ab hier beginnt der Traum über 4 Pässe und 5.500 Höhenmeter.
Der Ötztaler Radmarathon. Ein ambivalenter Mythos.
Und es beginnt das Unverständnis. Darüber, was an „neutralisiert“, „StVO“, „Rechts fahren“ aber auch an „Müll wegwerfen verboten“ schwer zu verstehen ist. Vor allem dann, wenn von der Organisation und der Rennleitung eine Sperre von zwei Jahren angedroht worden ist. Bei der verpflichtenden Fahrerbesprechung in der Freizeit-Arena. Dreisprachig. Deutsch, italienisch und englisch. Schade. Das passt so gar nicht zum Mythos Ötztaler Radmarathon. Ein perfekt organisiertes Fest. Eine Traningsfahrt mit 4000 Freunden. Es ist erstaunlich, was intelligente Menschen bereit sind, beispielsweise auf den ersten 20 km eines 238 km langen Rennens zu riskieren. Gesundheit, Material, das eigene und das Leben anderer. Dieses Mal waren es nicht nur ein paar wenige schwarze Schafe, sondern eine ziemlich große Herde.
Das ist die Sucht nach Anerkennung. Alle wollen und müssen immer höher, schneller und weiter. Schade. Diese Entwicklung ist nicht gut. Der Ötztaler Radmarathon hat sich das nicht verdient. Wie auch nicht den ganzen Müll, der außerhalb der dafür vorgesehenen Zonen, direkt auf oder neben der Straße weggeworfen wird. Danke an all jene, die nach dem Rennen die Sauereien dieser in einer anderen Welt lebenden Esel einsammeln und richtig entsorgen.
Schwimmen statt Rennardfahren.
Endlich habe ich den ersten Anstieg zum Kühtai überlebt. Mit den anderen mache ich mich auf eine nasse und kalte Abfahrt durch das Sellrain gefasst. Die Optimisten fahren immer noch mit kurzer Hose. Die Pessimisten und ich sind halbwegs eingepackt. Zittern aber trotzdem. Es ist so kalt, dass mir Nacken und Kiefer steiffrieren. Die Sicht äußerst eingeschränkt. Meine Bremsen im Dauereinsatz. Links und rechts fliegen die schwarzen Schafe an mir vorbei. Der Schutzengel habe sie lieb. Ich stelle mir zu Recht die Sinnfrage. Finde aber keine Alternative, um nach Sölden zurückzukommen. Die ersten Besenwagen stehen erst am Brenner.
Die Laune des Wetters schlägt hier voll ein. Lisa Brunnbauers Worte vom Vortag klingen jetzt mehr nach PR-Gag und Einladung, doch an den Start zu gehen. Bis weit nach Innsbruck fahren wir nicht Rennrad. Wir schwimmen ohne aufzuschwimmen. Kanaldeckel, Zebrastreifen und Bodenmarkierungen werden zu natürlichen Feinden. Einige hissen bis hierher bereits die weiße Fahne. Ich fahre für eine Handvoll Lycra weiter auf den Brenner. Das Schwimmen habe ich ja bereits im Hotel dieBerge üben können.
Leiden und beißen und das Verlangen nach Schmerz.
Erinnerungen werden wach. 2003 und 2013 war es ähnlich extrem. Damals war von Schauerneigung am Nachmittag aber keine Rede. Leiden und beißen. Diesmal würde das Ende ins Wasser fallen. Und das tat es auch. Auch wenn für viele unterschiedlich. Trocken, nass, nass, trocken. Brenner, Sterzing, Jaufen, St. Leonhard, Schönau, Timmelsjoch, Sölden. Eine Willensprüfung folgt der anderen. Im Dreivierteltakt geben sich Herbst und Winter die Klinke in die Hand. Anziehen, ausziehen, überziehen. Der Ötztaler Radmarathon 2018 wird auch deshalb seinen Platz in der Hall of Fame finden. Viele nutzen das Hinterlegungsservice. Haben sich am Samstag strategisch oder einfach zockend für einen blauen, grünen, orangen oder rosa Beutel entschieden. Kühtai, Brenner, Jaufen oder Timmelsjoch. Wo soll trockene Kleidung platziert werden? Aufgrund des Andrangs am Jaufen, hat dieser das große Los gezogen. Mir ist es mittlerweile egal. Nass ist nass und wird sich auch nicht ändern.
Am Ende sollen es knapp 600 Fahrer nicht geschafft haben, das Ziel in Sölden zu erreichen. Sie werden es wieder probieren. So wie es jeder nochmals probieren will und muss. Der Ötztaler Radmarathon macht süchtig. Fährt man von hier zurück nach Hause, gibt es immer irgendeine offene Rechnung, die man begleichen muss.
Jeder Ötztaler ist anders. Aber immer gleich hart.
Meine Erkenntnis nach der bereits 12. Teilnahme ist nicht überraschend. Jeder Ötztaler Radmarathon ist anders. Aber immer gleich hart. Dieses Jahr war die Abfahrt vom Jaufenpass im Nebel ein Novum. Fünf bis zehn Meter Sicht. Ein Sturzflug im freien Fall. Ohne Anhaltspunkte. Ohne Bremspunkte. Niemand kann von Langweile sprechen, wenn man sich Jahr für Jahr das freiwillig antut. Und dabei noch eine Startgebühr bezahlt. Dass jeder einzelne der 238 km diese Startgebühr wert ist, wäre eine andere Geschichte.
Eine von vielen Geschichten, welche der Ötztaler Radmarathon haufenweise schreibt. Jene über die 1000 freiwilligen Helfer. Auch sie stehen stundenlang an der Strecke. Ohne zu jammern. Die Geschichten über die Exekutive, die Feuerwehr, die Sanitäter, die Rennleitung. Ohne sie wäre nichts möglich. Und natürlich die persönlichen Geschichten jedes einzelnen Teilnehmers. Von den Siegern Laila Orenos und Mathias Notgegger bis hin zum Letzten, der nach 13 Stunden und 25 Minuten Sölden wieder erreicht hat. Helden sind sie alle.
Inzwischen befinde auch ich mich auf den letzten Kehren Richtung Tunnel kurz vor der Passhöhe am Timmelsjoch. Es ist ruhig. Die Zuschauer verständlicherweise irgendwo im Warmen. Dank Livestream und Internetübertragung auch kein Wunder. Die Strecke vom Tunnel zum Pass gleicht mittlerweile einer gut ausgebauten Autobahn. Es rollt, obwohl es immer noch leicht bergauf geht. Einer der insgesamt vier Pacemaker winkt mich am höchsten Punkt auf 2.474m durch. „Locker unter 10 Stunden“. Wieder verzichte ich auf’s Umziehen, Anziehen und Überziehen. Ich will nur noch ins Tal. Abfahrt, Kompression, Gegenanstieg Mautstelle, Abzweigung Obergurgl, Zwiestelstein, Sölden, Ziel. Und dann direkt in die Badewanne, wo ich gut 20 Minuten auftaue. Auf die Sauna habe ich verzichtet. Das hätte mir mein Kreislauf übel genommen.
Mindestens einmal sterben ist normal.
Hart. Härter. Ötztaler. Keiner schafft den Ötztaler, ohne nicht mindestens einmal an der Strecke zu verzweiflen. An sich zu zweifeln. Am Material zu scheitern. Das Thema Übersetzung kommt 365 Tage im Jahr im Zusammenhang mit dem „Ötzi“ gleich nach dem Thema Wetter. Mindestens ein Mal sterben ist hier normal. Der Ötztaler ist und bleibt eine Obsession. Das Überqueren der Ziellinie ist eine gewaltige Erlösung. Eine Explosion an Gefühlen. Ein Sprung in die Unsterblichkeit. Hier weinen gestandene Männer. Das Tragen des Finisher-Trikots ist ein Balzen auf müden Beinen. Blicke anziehen, Gratulationen entgegennehmen, vieles vergessen, um gleich neue Pläne zu schmieden. Für 2019. Denn nach dem Ötztaler ist vor dem Ötztaler. Und es gibt noch jede Menge offener Rechnungen.
ktrchts
Ergebnisse hier.
Bilder Ötztal Tourismus: hier
*aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlecht.
Schöner Artikel! Es bleiben aber trotz allem nur 227 km und 5100 hm 😉
Hi,
Die offiziellen 238 km und 5.500 Höhenmeter stammen von der Originalstrecke. Früher fuhr man in Kematen noch hinauf nach Birgit/Götzens und dann Mutters/Natters.
Seit dem Pro Rennen letztes Jahr, spricht der Veranstalter mittlerweile auch von 217 km + 10 km neutralisiert. Das sind dann 228 und das kommt hin. Höhenmeter variieren je nach Aufzeichnung. Es sind wohl an die 5.200.
lg
der beste Text, den ich bisher über den Ötztaler zu lesen bekam …Kette rechts wird mit den Jahren noch literarischer, schön!
War zweimal bei schönem Wetter dabei bekam und dieses Jahr zum Glück keinen Startplatz…auf einen neuen Sonntag im Spätsommer 2019
Frank
Ich hoffe wir sehen uns
Einmal wird mir die Teilnahme gelingen!
Drück die Daumen
Finde mich viel wieder… gelungen
Ich kann den Artikel in allen Punkten aus meinen eigenen Erlebnissen bei meiner Ötzi-Premiere bestätigen. Auch die Vorhersage der Wetterfee hat in der Nachbetrachtung etwas komisches (ein geringes Regenrisiko bzw. es wird nicht schneien :-)). Dummerweise habe ich der Vorhersage und den Apps vertraut und bei der Abfahrt vom Kühtai viel Leergeld bezahlt (mir war noch nie so kalt – zu wenig warme Kleidung). Aber ich habe die Gedanken einer Aufgabe bis zum Brenner beseitigen können. Der Rest der Strecke war dann nur noch auf durchhalten ausgerichtet. Ob ich ein Wiederholungstäter werde steht noch in den Sternen bzw. zur Zeit schließe ich es für mich noch aus. Aber man weiß ja nie – wirklich sehr schöner Artikel.
PS: die Wetterfee hat nach 9h30min das Ziel in Sölden erreicht
Jede Minute war genauso, toller Artikel!
Besten Dank für den Bericht, trifft alles ganz genau. Habe mich jetzt 5 Tage zurückgefühlt. Wollte nach dem Rennen auch nie wieder fahren. Aber vorsichtshalber schon mal das Hotel vorreserviert ;-). Danke nochmals, sowas liest man immer gerne
Gute Idee!
Toller Bericht! Genau auf „die Punkte“ gebracht. Ich habe mich allerdings für Regenjacke / Handschuhe an-aus Zenario entschieden. … trotzdem nun eine fette Erkältung
mich haben die 20 Minuten Badewanne gerettet 😉
Super geschrieben, besser hättest du.es nicht beschreiben können! Bei mir war es nun der 7te und letzte anlauf! So habe ich fast durchgehend ab hälfte jaufenauffahrt gedacht!! Wie immer!! Und wie immer werde ich im nächsten jahr im april wieder auf losglück hoffen!!!
ich drücke die Daumen #örm2019
Ein Super Bericht wieder einmal, Danke dafür! Mein Favorit bleibt aber das Video nach dem Ötztaler 2013 bestimmt weil das Blaue Trikot hier an der Wand hängt.
Msg
Das Blaue Trikot ist episch! Ich würde sagen 2013, 2018 und 2003 waren die härtesten. Für mich auf alle Fälle. lg
Sehr guter Bericht. Ich selbst kann mich noch gar nicht auf Worte festlegen. Von neun absolvierten Ötztalern war der jetzige für mich der härteste.
Sehr cooler Bericht. War selbst das 7. mal (auch 2013) dabei und habe noch nie so gekämpft wie in der Abfahrt vom Jaufen. Egal, episch trifft es und 2019 wird alles anders und doch irgendwie genauso…..(ich fand die Wetterfee sehr sympathisch und einen Gewinn für die Veranstaltung)
Sehr sehr schöner Artikel
Toler Artikel! trifft voll in´s schwarze. Ich bin den Ötztaler drei mal gefahren und hatte noch nie glück mit dem Wetter. Mein Wunsch wäre 1 x den Ötztaler bei schönem Wetter zu fahren.
[…] für einen Ötztaler Radmarathon Rückblick. Da war ja was mit dem kurzfristigen Langzeittest beim Countdown. Dem Experiment kurz vor zwölf. Neue Laufräder, eine neue Kassette und die Ungewissheit, ob am […]
Sehr schöner Bericht. Ich gehöre zu den 600 . Bin den jaufenpass mit krampfenden beinen hochgefahren und am time out gescheitert. Es macht tatsächlich süchtig. Werde aber erst 2020 starten und bis dahin gezielt trainieren. 8 wochen vorher hatte ich noch einen ironman absolviert. Das ist nichts gegen den ötztaler. Schöne Grüsse Michael
Auch heute lese ich diesen tollen Bericht immer wieder gerne!!Genauso, habe ich ihn bei meiner ersten Teilnahme erlebt! Nass,kalt gefährlich in den Abfahrten.War aber mit meinem Freund Jörg überglücklich und stolz,es geschafft zu haben.Zeit war zweitrangig….
Dabei sein ist alles. Und gesund ins Ziel kommen. lg
[…] Leidensgeschichten. 2003 und 2013 waren mit Sicherheit epische Höhepunkte. Oder im vergangenen Jahr. Wer dabei war, weiß wovon ich schreibe. Es ist somit unvermeidlich, dass jeder über das Wetter […]
[…] Ötztaler Radmarathon gibt man deshalb aber nicht auf. Niemals. Für eine Handvoll Lycra startet man Richtung Hölle, um Stunden später im Paradies anzukommen. Man überwindet vier Pässe […]
[…] Traum erfüllt, gleichzeitig aber auch einigen alle Hoffnungen auf das begehrteste Finisher-Trikot der Geschichte genommen. Der “Ötzi” ist und bleibt gnadenlos. Er kennt Jahr für […]