Schlagwort: Renradgeschichten

Die Radzeiten ändern sich – 11x Ötztaler Radmarathon

Radzeiten

Es war meine erste Teilnahme. Mitte der Neunziger. Ich hatte mir im Frühjahr mein erstes echtes Rennrad gekauft. Ein Basso Coral. Mit Campagnolo Chorus Gruppe und Campagnolo Vento Laufräder. In Livigno. Von einem ehemaligen italienischen Radsportprofi. Danach die ersten Radmarathons bestritten. Jung, unerfahren, naiv und abenteuerlustig. Amadè, Samson Man und Ötztaler Radmarathon im selben Jahr. Damals noch mit Start und Ziel in Steinach am Brenner. Zuerst den Brenner, dann der Jaufen, anschließend das Timmelsjoch, das Ötztal raus bei Gegenwind, das Kühtai und zum Schluss von Kematen noch über Birgitz, Götzens und Mutters zurück. Seitdem haben sich die Radzeiten geändert. Nicht nur meine.

Mit Heldenkurbel einen Heldentod sterben.

Damals (ja, damals – es sind ja mehr als 20 Jahre vergangen) konnte ich noch am Samstag vor dem Rennen eine Nachmeldung machen und als Heimschläfer im Studentenheim in Innsbruck am Renntag direkt anreisen. Heute brauchst Beziehungen, Losglück und mindestens eine ganze Woche Urlaub, um beim Spektakel in Sölden dabei sein zu dürfen. Die Radzeiten haben sich eben geändert. Mit an die mehr als 12 Stunden Gesamtzeit, war mein erster „Ötzi“ ein Pausen-Kapitel für sich. Mit Heldenkurbel bin ich nicht nur einen Heldentod gestorben. 53/39 vorne und 12/23 hinten. Am Kühtai nach dem Ochsengarten, dort wo heute die Gallerie einen Teil der steilsten Stelle entschärft hat, musste ich mein Rad schieben. Dabei war ich zu Fuß mit 4 – 5 km/h gleich schnell bis schneller als am Rad. Eine solche Übersetzung wäre heute undenkbar. Und auch ziemlich dumm. Ungeschickt. 32er Ritzel sind deswegen keine Seltenheit mehr. Auch bei den Spitzenfahrern.

Ötztaler Radmarathon 2015 from CristianGemmato on Vimeo.

Die Radzeiten ändern sich. Der Reiz ist geblieben.

Die Jahre vergingen und ich wurde kaum klüger. Noch einmal von Steinach am Brenner aus mit derselben Übersetzung, aber mit umlackiertem Rad versuchte ich mich erneut als Bergfex. Diesmal stoppte mich das so berühmt berüchtigte Ötztaler Wetter. Der obligate Wintereinbruch Ende August brachte mich an meine Grenzen. Handschuhe, Windjacke, Überschuhe sowie Sachen wie Gabba, Gore und ähnliche fürs Überleben im Tiroler Hochgebirge lebensnotwendigen Radutensilen waren mir fremd. Am Timmelsjoch habe ich mein geliebtes Rad in einen Schneehaufen gesteckt und bibbernd im Gasthof nach einem warmen Tee gefleht. Das selbe Stunden später am Kühtai. Aufgegeben habe ich mich aber nicht. Nicht damals und auch nicht die vielen Jahre danach. Nicht einmal 2003 und 2013 war es mir wert, auszusteigen. Beide Male bei Sauwetter und Regen bereits zum Start in Sölden. 2003 kamen von mehr als 3000 Startern, weniger an die 900 ins Ziel. Das Ötztal in der Früh war ein Kommen und Gehen. Die einen mit mir am Weg ins Kühtai, die anderen schon wieder zurück ins Hotel. 2013 derselbe Scheiß.

Was die Finisher in diesem Jahr geleistet haben, blieb auch bei den Veranstaltern nicht unbemerkt. So durften sich alle (!), die dem Sauwetter getrotzt waren, vor allen anderen für den Bewerb 2004 anmelden. Stellt euch das mal heute vor.

Radzeiten

Von Arne Hückelheim – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9579602

Einmal ist keinmal. Aber trotzdem bitter.

Wir schreiben das Jahr 2014. Ja, genau. Das Jahr nach dem „badass“ 2013. Die Wetterprognose war derart schlecht, dass die Organisation mitten in der Nacht per SMS die Teilnehmer vor stürmischen Zeiten warnen musste . Dieses Mal war ich erwachsen genug, um mich gegen einen Start zu entscheiden. DNS. Einmal ist zwar keinmal. Aber es tut trotzdem weh. Das Edelweiß-Finishertrikot fehlt mir. Im Kopf habe ich noch die Bilder jener, die mit Decken im Ziel vor dem Erfrieren bewahrt worden sind. Nur beim Anblick wurde mir kalt.

Man sagt, dass das Leben in den Bergen hart sei. Hart ist auch das Rennradfahren in den Bergen. Im Ötztal besonders. Sibirien an einem Tag, tropische Hitze am Tag danach. So wie vor zwei Jahren, als wir bereits am Start geschwitzt haben. Im Stehen. Es gibt aber auch Sibirien und tropische Hitze am selben Tag. Was die berühmteste aller Fragen in den Fokus wirft: „Was ziehe ich denn heute bloß an?“ Das hat sich bis heute nicht geändert und wird sich wohl kaum ändern. Der Ötztaler Radmarathon ist Roulette. Die Kugel rollt jedes Mal anders.

Der Traum vom Traum. Das macht den Mythos.

Wie sich die Radzeiten in den letzten Jahren geändert haben, zeigt auch die Tatsache, dass eine Teilnehme am Ötztaler Radmarathon heute ganz anders bewertet und wahrgenommen wird. Ein schwerer Radmarathon ist zum Mythos geworden. Viele haben diesen Traum vom Traum. War ich früher schon allein durch die Teilnehme am „Ötzi“ ein kleiner Held, muss  ich  heute mindestens eine Zeit unter neun Stunden fahren, will ich „Anerkennung“ ernten. Leistung ist in unseren Augen das, was zählt. Unsere Aufmerksamkeit liegt darin, zu messen und gemessen zu werden. „Wie schnell warst du?“ bzw. „Welche Zeit hast du vor?“, die allgegenwärtigen Fragen, die genau dieses Phänomen bestätigten. Heuer wird das noch extremer sein, denn am Freitag fahren Profis den Pro-Ötzteler-5500. Die eigenen Zeiten werden noch vergleichbarer. Das Abenteuer tritt in den Hintergrund.

Abenteuer ist es ja längst nicht mehr, seit der Ötztaler Radmarathon ein All-Inkl. Cluburlaub geworden ist. Früher war der Ritt über das Kühtai, den Brenner, den Jaufenpass und das Timmelsjoch härter. Was man am Start in Sölden dabei hatte, musste man die gesamte Strecke am Körper mitschleppen. Das machte schon einen recht ordentlichen Buckel. Die Trikottaschen voll wie nach einem Hofer (Aldi) Großeinkauf. Heute? Wäscheservice entlang der Strecke. Vier Mal umziehen. Trocknen, föhnen, kämmen. Die paar Wetterkapriolen sind plötzlich ein Kindergeburtstag.

Der größte Sieg ist der Startplatz selber.

Egal wie schnell jemand die knapp 220 km hinter sich kurbeln kann. Sieger sind heute all jene, die einen Startplatz haben. Nachmeldung war einmal. Heute wird verlost. Und zwar Monate davor. Mit aberwitzigen Methoden will man sich dabei den Platz an der Sonne (oder im Regen, im Schnee, im Wind und in der Kälte) sichern. Einzelanmeldung, doppelte Anmeldung, Merfachanmeldung, Fremdanmeldung, Gruppenanmeldung zuerst und dann Ummelden danach. Ganz offiziell. Gegen Bezahlung.

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Ötztaler Radmarathon – Rennstrategie

Ein offizieller Startplatz kostet bereits über € 100,-. Das perfide daran. Es zahlt sich aus. Es zahlt sich aus, für die paar Tage im Ötztal ein kleines Urlaubsbudget zu verbraten. Ein Hotelzimmer bekommt man nur, wenn man aktuell mindestens drei oder fünf Nächte bucht. Monate zuvor. Gegen Anzahlung oder Vorauskasse. Was man vermissen wird, wenn man nicht dabei ist, habe ich letztes Jahr selbst erlebt, als ich trotz Startplatz nicht teilnehmen konnte.

Es geht um nichts und doch um alles.

Die Radzeiten haben sich geändert. Ötztaler bleibt Ötztaler. Für Rookies (hier eine Anleitung für Ersttäter) wie auch für Wiederholungstäter. Kein Jahr gleicht dem anderen. Ausgeklügelte Rennstrategien gehen selten auf. Meine zumindest. Es geht um nichts und doch um alles. Ein Finishertrikot, welches mit Stolz und Würde getragen wird. Kein Radmarathon schreibt so viele unterschiedliche Geschichten. Bei jeder Teilnahme wird man reifer aber kaum gescheiter. Man verliert und gewinnt zugleich. Man lernt dazu und macht trotzdem die selben Fehler. Weil die Sinnfrage in den letzten Kehren hoch oben am Timmelsjoch Jahr für Jahr genauso dazugehört, wie das schmerzhafte aber erhabene Gefühl ein kleiner Held zu sein, wenn man in Sölden rechts Richtung Ötztal Arena abbiegt. Von dem her haben sich die Radzeiten doch nicht geändert.

ktrchts

PS: Von meinen früheren Abenteuern gibt es weder Fotos noch Videos. Nicht von mir noch vom Sportografen. Das waren einfach andere Zeiten.