Totgesagte radeln länger. Mein Ötztaler Radmarathon 2017

Ötztaler RadmarathonTotgesagte radeln länger

Die Zimmer sind schon reserviert. Jetzt brauche ich nur noch einen dieser begehrten Startplätze. Klappt das und Göttin Fortuna steht mir bei, sehen wir uns 26. August 2018 in Sölden wieder. The same procedure as every year. Der Ötztaler Radmarathon lässt mich nicht los. Dieses Jahr hat er mich abgeworfen. Genau dort wo ich ihm Paroli bieten wollte. Am Berg. Wieder einmal. Unerbittlich. Gnadelnlos. Im Notprogramm habe ich den Radmarathon wider Willen beendet und mir das viel zu enge Sportful Finisher Trikot geholt. In einer Zeit, die es nicht einmal unter die Top 5 meiner Ötzi-Bestenliste geschafft hat. Keine reife Leistung. Finishen ist nicht die Kunst für jemanden wie mich mit großer Klappe. Es gibt keine Ausreden dafür. Aber ein paar Ursachen.

Es gibt keine Ausreden. Aber ein paar Vermutungen.

Es gab einen Plan. Eine Marschroute. Eine Tabelle. Wie die letzten Jahre. Diesmal jedoch konservativ und ehrlich. Bremsen bis zum Brenner. Dann langsam in Fahrt kommen. Bis ca zur Hälfte hätte alles geklappt. Auch wenn es nicht leicht war. Dafür bin ich sogar von ganz weit hinten weggefahren. Aus den Tiefen der Dorfstraße. Eine Bummelfahrt bis Ötz. Eine Tratschrunde hinauf aufs Kühtai. Adrenalin pur mit einer Spitzengeschwindigkeit von 108 km/h hinab nach Kematen, einmal kurz Antreten Richtung Innsbruck, um eine Gruppe zu erreichen und dann quasi als Solist hinauf auf den Brenner. Immer im erlaubten Watt-Bereich. Mein Herz blutete bei jeder Gruppe, die mich Richtung Italien überholt hat. Inklusive Stop an der Labe war ich voll im Plan.

Sterzing erreichte ich locker am Oberrohr sitzend auf der Überholspur. Nichts deutete noch auf das Debakel hin, welches ich noch erleben sollte. Bis Gasteig alles im Plan. Sogar etwas darunter.

Ötztaler Radmarathon

Aus dem Lehrbuch

Der Ötztaler Radmarathon schenkt dir selten was.

Schon auf den ersten Metern hinauf Richtung Passhöhe Jaufen spührte ich kleine Ungereimtheiten. Ein Ziehen links im Gesäßmuskel. Hatte ich schon öfters. Ich schenkte dem keine größere Bedeutung. Immer noch voller Watt-Drang kurbelte ich mich in Zeitlupe nach oben. Es wurde aber nicht besser. Im Gegenteil. Es wurde schlimmer. Der ganze hintere Oberschenkel links zog jetzt mit. Ich war nicht mehr rund im Tritt. Konnte nur mehr Drücken. Plötzlich fehlten mir gute 20 Watt. Erste Zweifel an meinem Plan eroberten meine Gedankenwelt. Plan B wurde hochgefahren. Sicherheitshalber. In weiser Vorahnung. Zuerst einmal die Labestation erreichen.

Nach 6 Stunden und 8 Minuten sollte ich dort oben sein. Nach 6 Stunden und 18 Minuten war ich oben. Unrund. Ziemlich unrund. Psychisch und körperlich geschwächt. Inklusive Jaufen-Labestop, wo ich vergeblich nach dem suchte, auf das ich mich gefreut hatte und mechanischem Doping. Mein Vorderrad bekam noch einmal 3 Bar Luftdruck für die Abfahrt nach St. Leonhard dazu. Latexschläuche haben eben ihre Nachteile. Kurze Pausen auch. Kurz vor dem Pass auf Höhe des Sportografen, meldete ich der rechte Oberschenkel innen. Plan A, Plan B und jetzt Plan C. Wie schon geschreiben: Alles auf Notprogramm umstellen. Ich hatte alles auf meine Beine gesetzt. Ab jetzt musste der Kopf wieder die Kastanien aus dem Feuer holen und mich nach Hause bringen. Noch 72 km bis Sölden. Der Jaufen ist und bleibt für mich ein Henker.

Ötztaler Radmarathon

Kampf mit den Krämpfen

Richtig abgefahren, abgefahren.

Motivationstrainer meinen, man solle sich immer wieder selbst belohnen, um neue Kraft zu schöpfen. Dies tat ich mit meiner bis dato schnellsten Abfahrt vom Jaufenpass. Logisch. Bergab gilt ja Masse vor Muskelkraft. Hinter mir ein Rudel von Kontrahenten, denen ich eine Line vorgeben konnte. Zur Verteidigung der Straße nach St. Leonhard im Passeier sei anzumerken, dass sie durch menschliche und maschinelle Eingriffe viel von ihrer Gefährlichkeit verloren hat und somit leichte Beute für Geschwindigkeitsjunkies geworden ist. Im unteren Teil ist sie fast schon eine massentaugliche Autobahn und ein Affront gegenüber Scheibenbremsen, die nicht nur hier überflüssig waren.

Irgendwie war ich unten am Kontrollpunkt St. Leonhard durch den freien Fall vom Jaufenpass halbwegs wieder, noch im Plan. Zurück, aber nicht um Welten. Der beschwerliche Weg zum Joch hatte aber erst begonnen. Motiviert von der Geschwindigkeitsinjektion kotzte ich noch schnell ein Peeroton Gel, Geschmacksrichtung Cola in mich hinen. In der Hoffnung damit eine Art Druiden-Zaubertrank-Reaktion auszulösen. Es blieb bei der Hoffnung. Sobald sich die Straße um ein paar Zehntelprozent in die Höhe schraubte, verweigerten die Beine ihren Dienst. Meine ganz persönliche Demütigung begann. Hier.

Ötztaler Radmarathon

High Speed Abfahrt als Belohnung

Am Ende meiner muskulären Kräfte stellte ich mich auf einen längeren Dienstweg nach Sölden ein. Gedanken an den Besenwagen konnten kaum verdrängt werden. Die Angst, den Kontrollpunkt am Timmelsjoch um 1930 Uhr zu verpassen auch. Sogar die Spekulation, um den letzten Platz zu kämpfen musste ich akzeptieren. Mein Kopf war ein Computer, der sämtliche Optionen im Bruchteil einer Sekunde zu analysieren versuchte. So intensiv, dass ich dabei überhitzte.

Fertig ist, wenn der Kopf sagt, fertig ist.

Oberhalb von Moos in Passeier, vor der zweiten Kehre erspähte ich eine Bank am Straßenrand. Sie lag so schön in der Sonne. Sie war mir hier bis dato noch nie aufgefallen. Ein schöner Nebeneffekt, wenn man so langsam fährt. Die Bank rief meinen Namen und lud mich ein, vom Rad abzusteigen und eine kleine Pause einzulegen. Was ich auch machte. Auch ganz ohne Beat und Bässe wippten meine Beine im Rhythmus des Nervenzuckens. Der Blick von der Straße abgewandt. Die an mir Vorbeiziehenden bemerkte ich nicht. Kurzer Chat mit Sonja und die Nachricht, dass ich wohl etwas später nach Hause kommen werde.

Nach einer gefühlten Ewigkeit (es waren ganze 15 Minuten) ging es nicht wesentlich schneller wie bisher weiter. Bis zur Kraftquelle. Kaltes Wasser direkt vom Felsen und die nächste kurze Pause. Jetzt war ich nicht mehr der einzige, der leiden musste. Bekannte Geischter taten es mir gleich. Willi von Mountainbiker am See zum Beispiel oder Bernd, den ich nur aus diesem Gesichtsbuch kenne. Sogar Zeit zum Plaudern blieb. Mit der Erkenntnis, dass die Welt klein ist. Auch hier oben. Denn Bernds Frau besucht einen Kurs bei mir im Wifi Eisenstadt.

Wie schlecht ich unterwegs war, zeigte auch der Umstand, dass ich sogar im Flachstück vor der Labe Schönau überholt wurde. So ändern sich die Zeiten. Mit Schönau machte ich kurzen Prozess. Hier halte ich schon lange nicht mehr an. Andere schon. Einige davon standen mir deshalb im Weg, weil sie das Rad rechts abgestellt hatten und gedankenlos meine Fahrtrichtung querten. Zum Glück war meine Stimme noch kräftig genug, um mit einem astreinen „Vaffanculo“ mit süditalienischem Akzent meinen ganzen Frust abzubauen.

Um Timmels Willen. Wie lange noch?

Zwöfl Kilometer bis zu Passhöhe. Wie sehr ein stinknormales Schild am Straßenrad verletzend sein kann. Noch vier Kilometer bis zur letzten Labe. Meine Rettung. Ich habe Hunger. Mir ist schlecht. Ich friere und schwitze zugleich. Das System rebelliert. Ein Tritt jagt den anderen. Trittfrequenz bei ca. 60 U/min. Maximal. Und das bei 34/29. Wie lange noch?

Ötztaler Radmarathon

Um Timmels Willen

Die letzte Labe ist diesmal auch ein Reinfall. Warme Pepsi Cola und warmes Red Bull. Danke. Nein. Ein paar Trockenfrüchte gehen runter. Mehr nicht. Die heiß ersehnten Nüsse fehlen. Wie gesagt. Die Labstationen haben an Charme verloren. Wer braucht trockene Cornys oder Kokosflocken? Ich nicht. Also weiter. Ein E-MTB überholt mich locker. Danke. Das hat auch noch sein müssen. Jetzt bestraft mich mein Charma. Mir hängt längst schon die Zunge heraus. Irgendwie bin ich dann doch oben. Jetzt habe ich den Traum eines anderen. Meiner hätte ganz anders ausgesehen. Nur mehr hinunter nach Söden.

Nach der Abzweigung Obergurgl beginnt es zu regnen. Ich drücke trotzdem nochmals drauf. All in. Das bin ich mir schuldig. Ich brauche einen positiven Abschluss. Scheiß auf Muskelzucken. Nass, ausgelaugt und enttäuscht überquere ich die Ziellinie. Ich habe es verkackt. Als der Zorn nachlässt wird mir schlecht. Richtig schlecht. Der Galgenhumor in der Werkstatt im Zielgelände dauert nicht lange an. Ich muss ins Hotel. Schüttelfrost. Ich trau mich nicht unter die Dusche. Womöglich ertrinke ich dort. Es vergehen Stunden im Bett unter der Decke. Ungeduscht. Es melden sich Darm und Magen. Sie Klopfen an. Wollen was losweden. Dann greife ich zur Hausapotheke. Ein Mittel gegen Druchfall, soll meinen Flüssigkeitshaushalt wieder in Ordnung bringen. Es schmeckt wie Salzwasser. Ist es auch. Ein kurzes Bad und dann bin ich zu 20% wiederhergestellt.

Ende gut, nichts gut.

Heute, fünf Tage später habe ich noch immer keinen geregelten Stuhlgang. Auch zwicken die Beine immer noch. Die linke Wade und die linke Gesäßmuslulatur melden sich ab und wann. Vom Radfahren hält mich das nicht ab. In 10 Tagen muss ich zum Eddy Merckx Classic Radmarathon. Da darf ich dann wieder viele Fehler machen.

ktrchts

PS: Ich habe vor dem Ötztaler Radmarathon meinen Sattel zerlegt und gereinigt. Möglicherweise habe ich ihn nicht auf den Millimeter genau wieder eingestellt. Und ich habe mir vor dem Ötztaler Radmarathon auch neue Garmin Cleats montiert. Möglicherweise habe ich diese auch nicht wieder millimetergenau angeschraubt. Und ich habe während des Ötztaler Radmarathons zu wenig auf meinen Natirum- und Salzhaushalt geachtet. Trotz Last-Minute-Tipps. Das sind jetzt keine Ausreden. Nur Vermutungen. Möglicherweise aber Ursachen. Eine letzte Vermtung darf ich nicht äußern. Ich würde wieder Single sein.

Vielleicht bin ich aber auch einfach nur zu alt für diesen Scheiß.

Danke für die Empfehlung

8 Kommentare

  1. Hab mir grad mal das Streckenprofil reingezogen. Alle Achtung! In deinem Alter sitzen die meisten wahrscheinlich auf dem E-Bike – wenn überhaupt – und lassen sich den Po durch die Gegend fahren. Dann doch lieber so! Also, meinen Respekt hast du trotzdem!

  2. Reinhard Voigt

    Schöner Bericht, und eigentlich sympathisch, daß es bei Dir mit der langjährig gemachten Erfahrung auch nicht immer wie nach Plan läuft.
    Ich hab mir die Ötzi Strecke heuer einmal live angesehen. Möchte mir den Ritterschlag vor meinem nächsten runden Geburtstag abholen. So der Plan 😉

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