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Der Ötztaler Radmarathon – ein Traum für viele. |
„Hallo Cristian, da hast du deinen Traum! Herzliche Gratulation. Du hast das Ziel in Sölden erreicht.“
Leider nur jenes in Sölden. Nicht mein persönliches. Das war hochgesteckt Aber durchaus im Bereich des Möglichen. Verständlich, dass sich meine Freude über das Erreichte sehr in Grenzen hält
0645 Uhr. Ich stehe seit 60 Minuten im Startblock. Ohne Handschuhe. Ohne Überschuhe. Ohne Windjacke. Ohne Stirnband. Ohne Beinlinge. Ohne Knielinge. Es ist erstaunlich warm für Ötztaler Verhältnisse. Kurz – kurz beginne ich mein Abenteuer. Startschuss. Es dauert bis ich mich hier hinten in Bewegung setze. Dann rollt es. Richtung Ötz. Ich soll in 49 Minuten unten sein. Das sagt mein Plan. Ich muss mich einbremsen. Psychologisch leide ich, als mich von hinten die Meute überrollt. Links. Rechts. Mit wiederholtem Blick auf meinen Garmin erdulde ich diese Schmach. Ich könnte schneller. Viel schneller. Ich darf aber nicht. Soll nicht. Es bilden sich Gruppen. Immer wieder ertappe ich mich, wie ich die Löcher zumachen will. Instinkt und Vernunft liefern sich einen Machtkampf. Meine Kette rechts. Die Geschwindigkeit hoch. Es kracht schon ordentlich. Links 3 Fahrer in der Wiese. Rechts ein Reifenplatzer. Wir sind noch kaum 15 km unterwegs. Das Wetter ist ein Traum. Mir ist kein bisschen kalt.
Trotz defensiver Fahrweise bin ich bereits nach 37 Minuten in Ötz. 12 Minuten schneller als geplant. Von hier geht es hinauf aufs Kühtai. Ich darf mit 242 Watt da rauf klettern. Das gelingt nicht ganz. Das Kühtai hat steile Passagen. Und ich übermotivierte Beine. Trotz 34/27 und niedriger Trittfrequenz sind 290 Watt + keine Seltenheit. Gruppendynamik. Ich bremse mich ein. Fahre vorsichtig und achtsam. In den ebenen Passagen rolle ich quasi dahin. Alles fühlt sich mehr wie eine Sonntagsspazierfahrt an. Rennen? Rennen sind anders. In Ochsengarten empfängt uns die Sonne und ein Bergpanorama mit Heimatfilmcharakter. Exakt nach Plan brauche ich von Ötz aufs Kühtai 1h19min. Schneller als je zuvor. Lockerer als je zuvor. Alles fühlt sich so leicht an. Bei der Labe fülle ich meine Trinkflasche auf und gehe pinkeln. Die Abfahrt nach Kematen absolviere ich in Wrap-Geschwindigkeit. 103,7 km maximales Tempo. Es rollt. Vor mir der heikle Teil bis zum Brenner.
Ab Kematen wird taktiert. Und wie. Hinter mir bildet sich eine große Gruppe. Ich fahre in der Ebene meine 200 Watt konstant. Bitte um Ablöse. Mit Handzeichen und Ausscheren nach links. Doch keiner kommt nach vor. Ich hole einzelne Fahrer ein. Reihe mich hinter diesen ein. Als sie mich sehen, bremsen sie und lassen sich zurückfallen. Alles Lutscher. Vorbei an Völs geht es kurz bergauf Richtung Innsbruck. Plötzlich treten sie alle wieder voll in die Pedale. Als ob man hier innerhalb von 700 Metern das Rennen gewinnen könnte. Ich bleibe dran. Muss etwas über die 200 Watt Schwelle. Bei der Einfahrt in die Stadt finde ich mich wieder an der Spitze der Gruppe. Ich führe diese in die Steigung zum Brenner. In einer Rechtkurve unter dem Bergisel stehen viele Zuschauer. Ich will den Applaus. Und bekomme diesen. Ich motiviere die Zuschauer. Sie klatschen und feuern uns an. Adrenalin schießt mir ein. Kurz kratze ich die 400 Watt. Die Gruppe ist gesprengt. Schnell bremsen. Warten. Zurückfallen lassen. Es geht zur Kontrollstelle. Alles nach Plan. Jetzt kommen ein paar von hinten. Ich lasse diese ziehen. Oben bei der Querung der Stubaital-Bahn bin ich immer noch an der Spitze einer Gruppe. Wieder bitte ich um Ablöse. Deute an, Kreisel fahren zu wollen. Keiner will es. Keiner checkt es. Ein paar Lustige versuchen hier auszureißen. Ich sage nur Tschüss. Viele haben sich wohl an mein Tempo gewöhnt und hängen mir am Hinterrad. Es geht nach Schönberg. Kurz vor Ende der Steigung holen wir – hole ich – eine vor uns fahrende Gruppe ein. Jetzt sind wir sicher mehr als 100. Unruhig und hastig geht es durch Matrei, Steinach am Brenner und Gries am Brenner.
Kurz vor dem Brenner wird es steiler. Ich halte mich an die 200 Watt. Knapp vor der Zeitnehmung wartet Maria. Sie hat mir Verpflegung angeboten. Da ich unter Plan bin bleibe ich stehen. Nach 4 Stunden Fahrzeit 0,5 l Cola ex. Wasser auffüllen, Salztabletten und Magnesium rein. Eine Banane und eine Packung Mannerschnitten ins Trikot. Kurzer Small Talk und weiter gehts. Die große Labe am Brenner lasse ich aus und stürze mich Richtung Sterzing. Bei Gegenwind spiele dieses Mal ich verstecken.
Endlich wartet der Jaufen. Wieder darf ich auf 242 Watt erhöhen. Doch schon auf den ersten km merke ich, dass dies nicht mehr möglich ist. Irgendwie geht auf einmal nichts mehr. Ich kurble konstant an der 200 Watt Schwelle weiter. Es ist heiß. Sehr heiß. Und ich habe so ein komisches Gefühl. Ein Déjà-vu. Erste Zweifel kommen auf. Ist etwa mein Tank leer? Trotz Banane und Gel noch vor der Steigung. Kurz vor Kalch muss ich das erste Mal unplanmäßig vom Rad. Das Plätschern eines Brunnens hat meine Aufmerksamkeit erhascht. Ich genehmige mir ca 1 Liter kaltes Quellwasser. Dann geht es weiter. Immer wieder versuche ich Gas zu geben. Nicht immer gelingt es. In den flacheren Passagen tue ich mir leichter. Mein Motor wird nicht langsamer, aber leider auch nicht schneller. An der Labe 1,5 km vor der Passhöhe fülle ich erneut meine Flaschen auf. Zum Essen fehlt mir Appetit und der Gusto auf irgendwas. Trotz Pausen fahre ich den Jaufenpass in 1h24min. Oben bin ich jetzt 6 Minuten hinter Plan. In der Abfahrt nach St. Leonhard verliere ich weitere wertvolle Minuten. Der Straßenbelag hier ist sehr schlecht. Schlaglöcher. Spurrinnen. Teilweise im Schatten und schwer zu erkennen. Trinkflaschen und Satteltaschen gibt es hier mitten auf der Straße zum selber pflücken.
Am Ende der Abfahrt überträgt meine „furia rossa“ laute Geräusche in mein sensibles Gehör. Im Takt. Mit der Geschwindigkeit. Als ob irgendwo was stecken würde. Es streift. Es reibt. Es stört. Vielleicht Gespenster oder eine Fata Morgana. Ich bleibe trotzdem 2x stehen und prüfe Bremsen, Ventile und andere Teile. Kann aber nichts auffälliges erkennen. Es ist nur laut und sehr unangenehm.
Der letzte Anstieg steht bevor. Ich darf diesen langsam angehen. Unten 228 und oben dann 200 Watt. Die Sonne heizt recht ordentlich. Der Asphalt brennt und die Mauer von St. Leonhard wird ihrem Ruf als Wärmespender mehr als gerecht. Ich genehmige mir noch schnell ein Peeroton Gel. Gusto Cola. Für die nächsten 2h soll das Energie geben. Fehlanzeige. Meine Leistung sinkt. Und mit der Leistung auch die Motivation. Ich spüre es im Magen. Sobald ich Gas gebe, bekommt mich dieses flaue Gefühl von leichtem Brechzeiz und miserablem Schwindel. In diesem Moment weiß ich, dass mein Plan gescheitert ist. Ich schalte auf Notstromzufuhr um und genehmige mir am Straßenrad im Schatten eine Packung Manner Schnitten. Wenn schon Sonntagsfahrt, dann eine ordentliche. Meditative. Mit kulinarischem Highlight.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schwinge ich mich wieder auf das Rad. In der Zwischenzeit sind viele Fahrer an mir vorbei. Unter anderem Johannes, mit dem ich gemeinsam das Kühtai und den Brenner gefahren bin und Erich mit seinem Dogma. Viel hat sich an meinem körperlichen Befinden nicht geändert. Kurbeln auf Sparflamme. Ich erreiche Moos und steuere die Kehren Richtung Schönau an. Am Limit. Der Kreislauf ist kurz vor dem Kippen. Meine vor knapp 10 Tagen eingeklemmte Bandscheibe gibt mir jetzt auch noch den Rest. Die Suche nach einer idealen und schmerzfreien Sitzposition scheint aussichtlos zu sein. Pedalieren im Stehen geht sowieso nicht. Der Rücken will nach vor gebeugt sein.
Wasser ist jenes Element, welches zu diesem Zeitpunkt das Überleben aller auf der Strecke schwitzenden Velocisti sichert. Wasser ist zu diesem Zeitpunkt Mangelware. Eine groß gekennzeichnete Kraftquelle am Straßenrad sprudelt mit 4 Tropen pro Sekunde recht dürftig. Eine Schlange wie beim Bäcker am Sonntag hindert mich hier stehen zu bleiben. Ein paar Kilometer weiter erblicke ich die Bergrettung mit einem Wassertank. Mehrere Helfer versorgen die durstigen Träumer mit viele Sorgfalt. Nach kaltem Zuschuss geht es mir wieder halbwegs besser. Mein Körper ist teilweise wieder auf Normaltemperatur. Nicht lange aber immerhin.
Die große Labe in der Schönau lasse ich aus. Als Wiederholungstäter weiß ich von der Seeberalm Labe. Dort gönne ich mir nochmals Getränke und etwas Trockenobst. Noch 7,5 km und knapp 500 HM. Erstaunlicherweise arbeitet mein Motor jetzt wieder. Ich kann 220 Watt treten. Komme gut nach vorne. Überhole und überrasche mit flinkem rundem Tritt die anwesenden Zuschauer. Ich sauge die aufmunternden „Guat schaust aus“ Anfeuerung auf. Posen für Sportograf Mannschaft inklusive. Der Tunnel 1,5 km vor dem Pass gibt mir etwas Abkühlung und Wasser von oben. Als ich die Passhöhe erreiche bin ich bereits 51 Minuten über Plan.
Ich lasse es nochmals krachen und erreiche abermals über 100 km/h hinunter Richtung Gegenanstieg Mautstelle in Hochgurgl. Die Steigung tut nochmals weh. Der Rest ist dann nur mehr eine Kür. Mit Rückenwind und Vollgas. 33 Minuten nachdem ich das Timmelsjoch passiert habe, erreiche ich 48 Minuten über Plan das Ziel in Sölden. Die sub 9 bleiben weiter ein Traum.
Cristian Gemmato aka @_ketterechts
#faceyourpassion
PS: Natürlich habe ich Ursachenforschung betrieben. Mehr auf der philosophischen als auf der faktischen Seite. Ich hatte eine gute Strategie. Ich hatte aber nicht die Form, diesen Strategie umzusetzen. Weil mein Radsommer zu genial war und weil ich die notwendige Regeneration überbewertet habe. Um die Dinge klar auszusprechen – ich hatte keine Regeneration. Ich habe es probiert. Etwas wissenschaftlicher, aber immer noch zu blauäugig. Ich fand es genial, das Rennen nach Watt anzulegen. Danke an dieser Stelle nochmals an GarminD. Die Vector 2 sind genial. Alles in allem fehlte mir ein System. Trainingssteuerung würde man sagen. Weil ich einfach gerne Rennrad fahre. Wann immer ich Lust habe. Mit Betonung auf immer. Wie immer ich Lust habe. Schnell. Mich und meinen Körper spürend.
Möglicherweise habe ich nicht mehr die körperlichen Voraussetzungen für eine Zeit unter 9 Stunden. Ich werde es aber wieder versuchen.