Herrlich. Ich muss heute nicht essen. Ich kann. Aber ich muss nicht. Heute habe ich Ruhetag. Zumindest aus sportlicher Sicht gesehen. Kein doppeltes Frühstück mehr. Kein Gel-Drücken im zwei Stunden Abschnitt. Kein Hingreifen zu Kuchen und Schokolade. Kein Kaiserschmarrn als Nachspeise nach der eigentlichen Nachspeise. Kein googlen nach offenen Döner- und Pizza-Buden. Kein nächtlicher Snack vor und weit nach Mitternacht. Kein „bringens her, wir essen das schon auf.“ Kein Zwang nach Kalorien. Kein Würgen nach fester Nahrung. Nichts von all dem. Die Tauernrundfahrt ist gestern zu Ende gegangen. Der normale Alltag hat mich wieder. Ich muss heute nicht essen. Und ich muss heute nicht Rennradfahren. Ich kann. Aber ich muss nicht.
Tauernrundfahrt. Essen. Schlafen. Rennradfahren.
Das ganze bitte fünf Mal wiederholen. Von Salzburg nach Salzburg über bekannte und weniger bekannte Bergstraßen. Dientner Sattel, Filzensattel, Griessenpass, Kerschbaumer Sattel, Gerlospass, Großglockner Hochalpenstrasse mit Fuscher Törl, Hochtor und der Kaiser Franz Josefs Höhe, Schönfeldsattel, Prebersee, Sölkpass, Koppenpass und Postalm. Macht in Summe 741 km und 11.226 Höhenmeter. Das Ganze in 27h und 25min bei einem Gesamtschnitt von 26,74 km/h und einem Energieverbrauch von 66.679 Kilojoule (dazu kommt noch der normale Bedarf von ca. 33.913 Kilojoule in 5 Tagen). Kopf, Beine und Verdauung waren bis aufs Höchste gefordert.
Die Tauernrundfahrt ist zu Ende. Zeit einfach ein wenig nachzudenken. Solange die Erinnerungen frisch sind. Für dieses Jahr nehme ich folgendes mit:
- egal wie stark du bist, wie motiviert du bist, wie angriffslustig du bist. Es gibt immer einen, der stärker, motivierter und angriffslustiger ist. Als erster am Berg ankommen? Utopie!
- Schmäh zählt nicht mehr. Alles was zählt ist Strava. Kaum angekommen wird der Tag schon hochgeladen. Und dann wird analysiert. Watt, VAM, PCO, sufferscore, KOM’s, Vorsprung, Rückstand …
- 25, 27 und jetzt 29. Ich werde älter. Oder gescheiter? Egal. Das 29er Ritzel war eine Wohltat.
- nach anfänglicher Skepsis habe ich mich in meinen Hutchinson Fusion 5 Galaktic 25mm Hinterreifen verliebt. Es ist erstaunlich was 2mm mehr ausmachen. Speziell bergab. Das bisschen mehr Grip verleiht dir in den Kurven schräge Flügel.
- auf Garmin kann man sich leider nicht mehr verlassen. Ganze drei Systemabstürze in fünf Tagen. Zuerst beim Prolog nach Software Update für die Vector2 Pedale. Garmin ließ sich nicht mehr einschalten. Dann unterwegs. Garmin ließ sich nicht mehr in Gang setzen. Blockiert. 40 km meines Lebens wurden mir gestohlen. Gestern dann kein GPS Empfang. Weitere 40 km meines Lebens dahin. Zum Glück musste ich nicht navigieren – ich wäre sonst immer noch irgendwo in den Tauern.
- Touristen bringen Geld. Und das ist gut für die Wirtschaft. Deutsche Touristen bringen aber auch Ärger mit sich. Sie hupen, schneiden und rasten aus. Wo ist da noch der Urlaub, wenn man sich über ein paar Rennradfahrer so aufregen muss?
- wenn was kaputt geht ist a) das Material schuld oder b) man hat zu viel Kraft. Ich habe die Feder des Freilaufes zerstört. Jene Feder, welche die Sperrklinken zusammenhält. Es war nicht lustig die Etappe so zu Ende zu fahren.
- Campagnolo Freilauf ist nicht Campagnolo Freilauf. Was bringt dir ein intakter Freilauf, wenn dieser nicht auf die Nabe passt? Nichts. Statt High Heels bin ich Alu-Heel gefahren.
- Die Arbeit eines fahrenden Social Media Reporters scheitert an der Sprache. „Bitte mit genügend Abstand hintereinander abfahren, damit ich von jedem ein Foto machen kann“ wurde mit einem kompakten Gruppentreffen in besagter Kehre quittiert. Das nächste Mal vielleicht per WhatsApp Nachricht informieren.
- Kollektives Leiden ist ein besonderes Leiden. Es tut weh. Doch es tut nicht so weh. Weil es anderen auch weh tut. Kompliment an alle, mit Betonung auf ALLE, welche die Tauernrundfahrt beendet haben. Von den Schnellsten zu den weniger schnellen. Chapeau.
- Defektteufel sind manchmal auch im Urlaub. Meine Ausgeschlossen. Außer einem Dura Ace Schaltkabel, der sich selbst aufgefressen hat, musste in der schnellen Gruppe kein weiteres Teil einem Defekten weichen.
- Intimpflege wird überbewertet. Eine Minderheit kümmerte sich nach den Etappen ums Rad. Obwohl in den Hotels Shampoo und Putzlappen zur Verfügung standen. Meine Devise: Zuerst das Rad, dann der eigene Körper.
- Mach dich immer mit der Topografie der Bergankünfte vertraut! Dann packst du die Jugend mit Taktik. Schlauheit sticht Kraft.
- Fokussiere dich auf deine Stärken. Und wenn diese im Abfahren liegen, dann fahre ab. Gas geben, bremsen, steuern, Gas geben, bremsen, steuern … Die Mühen der Auffahrt werden so vielfach belohnt. Das Gefühl mit dem kurveninneren Knie a la Valentino Rossi am Asphalt zu streifen ist kaum zu überbieten. Maximal bergauf.
- Beherrsche dein Rad. Wenn dein Vordermann plötzlich langsamer wird und du mit deinem Vorderreifen beim Ausweichen seitlich seinen Hinterreifen touchierst, darfst du einfach nicht auf die Fresse fallen. Das tut weh. Egal wie, bring dein Fahrrad wieder dorthin, wo es dich verlassen hast. Mir geschehen auf der Auffahrt zur Postalm. Ich weiß nicht wie, aber ich weiß dass ich es geschafft habe, den Asphalt nicht zu küssen. Zuerst links dagegen gehalten, dann rechts. Und als das Fahrrad über das Bankett gesprungen ist, habe ich es wieder zurück geworfen.
- Adrenalin kann man in Watt umwandeln. An der richtigen Formel und Dosierung bastle ich noch.
- Eine perfekte Organsiation und Logistik, eine hoch motiverte Mannschaft, ein fachkundiger Mechaniker, eine gelungene Hotelauswahl (von Jungendherberge bis zu ****Hotel) und eine fordernde Streckenauswahl. Ich wurde gut gebettet, versorgt und betreut. Danke.
… Fortsetzung folgt, sofern neue Erinnerungen aufkommen.
Cristian Gemmato aka @_ketterechts
#trf16 #ketterechts #styliseyourride