Das Wetter war diesmal nicht schuld. Leider. Es war die ganze Zeit ein Traum. Bis auf die letzten Kilometer jener, die etwas länger unterwegs gewesen sind. Sie haben das Timmelsjoch von seiner dunklen Seite kennenlernen müssen. Bedrohlich, schwarz, kalt und nass. Schlau, wer vor dem Start seine Hausaufgaben gemacht und für die vorhergesagten Schauer und Gewitter vorgesorgt hatte. Mit schneller fahren oder mit Regenjacke. All diese Streber durften im Ziel noch und wieder lachen. Der Rest musste im Ziel vom Rad geholt und in Decken gehüllt werden. Der Ötztaler Radmarathon 2019 war zum Ende hin erbarmungslos wie immer.
Der „Ötzi“ ist einfach nicht planbar.
Die heurige Teilnahme hat mir wieder klar gemacht, dass der „Ötzi“ einfach nicht planbar ist. Egal wie schnell man ist, es gibt viele, die schneller sind. Es ist auch egal wie weit man links fährt, es gibt viele die noch weiter links fahren. Teilweise auch außerhalb der Straßenbegrenzung. Vor allem zwischen Sölden und Ötz. Ganz egal ist es auch, wie weit man rechts fährt, denn es gibt einige, die noch rechter sind. Interessant auch, dass es völlig egal ist, wie stark man Kurven schneidet. Ja richtig, es gibt einige, die noch schnittiger unterwegs sind. Dann ist es auch noch einmal egal, wie strikt man die eigene Linie fährt. Erstaunlicherweise gibt es einige, die genau die selbe Linie fahren. Deine erkämpfte Linie.
Ich hatte heuer stark geplant, meine Zeiten aus den Vorjahren zu verbessern. Und was ist passiert. Es gab genug andere, die das gemacht haben. Meinen Plan besser zu sein, haben andere verwirklicht. Besser. Auch hatte ich geplant, viel mehr zu „lutschen“, um Kräfte zu sparen. Umsonst. Denn es gab wieder andere, die das noch schlauer umgesetzt haben. Hinter mir. Von Kematen bis Innsbruck und dann fast bis auf den Brenner.
Auch wollte ich in den Abfahrten viel mehr auf Sicherheit fahren und nicht unbedingt wieder die 100 km/h mehrmals überschreiten. Richtig. Es gab andere, die weitaus sicherer als ich unterwegs waren.
14x Ötztaler Radmarathon. Jedes Mal ein erstes Mal.
Vor dem Rennen habe ich mir auch ganz stark vorgenommen nicht zu sterben. Ich wollte die Pässe hinauffliegen. Wie das die Profis machen. Im Fernsehen. Locker, lässig und mit einer bemerkenswerten Kadenz. Passiert ist, dass viele, und ich meine wirklich viele, das viel lockerer und lässiger gemacht haben als ich. Dann wollte ich natürlich auch auf meine geplanten Wattzahlen schauen und diese sogar erhöhen. 240 Watt am Kühtai, 200 am Brenner, 220 am Jaufenpass und dann all in am Timmelsjoch. Egal wie viele und wie wenige Watt ich noch treten konnte, es gab genug andere, die noch härter und schneller ihre geschmeidigen Pedalumdrehungen zur Schau stellen.
Mein Garmin zeigte teilweise 140 Watt bergauf. Zuerst dachte ich mir, ein Vector wäre wieder ausgefallen. Passiert öfters. Wäre nichts Neues gewesen. Doch es waren tatsächlich nur 140 Watt. Irgendwo war meine Kraft verloren gegangen. Bereits auf den ersten Metern von Ötz hinauf ins Kühtai war mir klar, dass ich ohne Überstunden nicht in Sölden ankommen werde. Man kann beim Ötztaler Radmarathon viel falsch machen. Als wäre jede Teilnahme ein erstes Mal. Ich habe vieles falsch gemacht
Ötztaler Lycra ist die neue Anerkennung.
Einen Ötztaler Radmarathon gibt man deshalb aber nicht auf. Niemals. Für eine Handvoll Lycra startet man Richtung Hölle, um Stunden später im Paradies anzukommen. Man überwindet vier Pässe und fühlt sich wie eine Katze mit sieben Leben. Man stirbt (mehrmals) und steht von den Toten wieder auf. Wer ein Mal mehr aufsteht, als er stirbt kommt in Sölden an und darf sich in der Ötztal Arena das begehrte Finisher Trikot abholen. Nie mehr wieder bis zum nächsten Jahr. Der Ötztaler Radmarathon ist und bleibt eine Sucht. Hier werden Heldengeschichten geschrieben. Von jedem einzelnen. Die einen weinen vor Schmerzen, die anderen vor Freude und Berührung. Egal wer und ganz egal wie, kein Rennen kann so viel Emotion auslösen. Wenn Matthias Nothegger in weniger als 6h50 seinen Arbeitstag beendet, dann ist das Gänsehaut. Eine kaum nachvollziehbare Leistung. Wenn der letzte Teilnehmer nach mehr als 13h30 in Sölden ankommt, dann bewegt das gleich mehr. Auch das ist eine herausragende Leistung. Für die Schnellen ist Schnellfahren eine Pflicht. Für uns Hobbyathleten ist es ein Kunst.
Ötztaler Lycra ist längst die höchste Anerkennung, die man sich erkämpfen kann. Aber auch die vielen ausgestreckten Hände am Rande der gesamten Strecke. Kinder, die dir die Hand reichen und dich einladen mit ihnen abzuklatschen. Das ist der Grund, warum wir das machen. Vorbild sein für einen kurzen Augenblick. Ihre Augen strahlen sehen und ihre Freude spüren. Meist stehen sie sogar im Sonntagsgewand. Das heißt in Tirol und Südtirol sehr viel. Zeiten werden plötzlich relativ. Dabei sein ist alles. Durchkommen und finishen die Superlative Krönung.
Dummheit auf zwei Rädern.
Rahmenprogramm, Organisation, Support, Absicherung, Verpflegung, der Ötztaler Radmarathon 2019 hat keine Wünsche offen gelassen. Dass viele besser, schneller und schlauer waren als ich, dafür bin ganz allein ich schuld. Ich hatte es mir anders vorgestellt und hatte es auch ganz anders geplant. Einziger Kritikpunkt geht von meiner Seite aus an uns Athleten selbst. Wir sind der Innbegriff für die Dummheit der heutigen Gesellschaft in Sachen Umwelt. Da gibt man uns die Möglichkeit, einen perfekten Tag am Rad zu verbringen und wir bedanken uns mit Müll, den wir entlang der Strecke einfach so wegwerfen. Niemand, der sich die Frage stellt, wer das denn wegräumen soll. Die Kühe? Die Touristen? Die Zeit?
Trotz meiner eigenen Probleme auf den 228 Kilometern hatte ich genügend Zeit zum Fremdschämen. Meine Gedanken, lieber voller Gels unterm Trikot als Vollkoffer im Feld.
Bist du zu schwer, wird’s schwer.
Was vom Ötztaler Radmarathon 2019 bleibt sind ein Zwicken im Oberschenkel – innen, über die gesamte Länge, heute noch – und die Erkenntnis, dass es schwer wird, wenn man zu schwer ist, weil es sowieso schon schwer genug ist. Die vielen Krämpfe in den Beinen und im Magen haben mir den Ötztaler-Genuss zudem noch mehr erschwert. Der letzte Krampf am Gegenanstieg zur Mautstelle Hochsölden reihe ich in die Kategorie „Mega-i-Tüpfelchen-Deluxe“ ein.
Trotzdem habe ich Spass gehabt. Auch wenn es viele andere gab, die noch mehr Spass hatten. Es war lustig, leidend. Vor allem und eigentlich nur in den Abfahrten. Kühtai, Sterzing, St. Leonhard und Sölden habe ich so genommen wie sonst selten. Waren es 2018 PR’s auf allen Anstiegen, so bleiben 2019 PR’s in allen Abfahrten. Vielleicht schaffe ich beim Ötztaler Radmarathon 2020 beides in einem Rennen. Ich plane es einmal ein, auch wenn ein Ötztaler Radmarathon nicht planbar ist.
ktrchts
PS: Ein Danke an alle, die mich in Sölden erkannt, angesprochen und mir viel Zuspruch gegeben hat. Ein persönliches Kompliment gibt mir mehr als tausend Likes.