Es war eine heiße Premiere. Der Ötztaler Radmarathon 2023 hat in seiner ersten (und wohl letzten) Juli-Edition vielen TeilnehmerInnen einen großen Traum erfüllt, gleichzeitig aber auch einigen alle Hoffnungen auf das begehrteste Finisher-Trikot der Geschichte genommen. Der „Ötzi“ ist und bleibt gnadenlos. Er kennt Jahr für Jahr kein Erbarmen. Schwitzen oder frieren. Dazwischen gibt es selten Spielraum. Wer die letzten Jahre sein Königreich für einen wärmenden Sonnenstrahl am Timmelsjoch verschenkt hätte, wäre dieses Jahr an gleicher Stelle mit einem kühlen Schauer richtig glücklich geworden. Vielleicht haben einige sogar vom Schnee vergangener Jahre geträumt. Der Hitze zum Trotz haben von 4.337 StarterInnen (4.014 Männer und 322 Frauen) 3.869 den Weg ins Ziel nach Sölden gefunden. Sie alle dürfen sich über ein äußerst prestigeträchtiges Stück Lycra freuen. Chapeau. Natürlich auch den SiegerInnen Manuel Senni und Janine Meyer.
Plötzlich Juli und plötzlich Hochsommer.
Es war schon eine ganz große Überraschung, als der Termin 2023 für den 9. Juli angekündigt wurde. Ein Ötztaler Radmarathon im Hochsommer? Feine Sache. Ganz ohne Ballast. Keine Überschuhe, keine Merino-Socken, keine Mütze, keine Handschuhe, keine Beinlinge und vor allem kein nerviges An- und Ausziehen. Das war zumindest die Hoffnung. Hoffnung, aus der, je näher der Termin rückte, Gewissheit wurde. Der Celsius-Dreier war fix. Und wer St. Leonhard kennt, weiß, dass ein Vierer hier unten keine Utopie sein muss. Plötzlich Juli und plötzlich Hochsommer in Sölden. Es war also alles angerichtet. Für ein chilliges Rennwochenende. Ohne den gefürchteten Ötzi-Wetter-Schreck. Ein kühler Donnerstag, ein sonniger und frischer Freitag (samt Gewitter-Eintagsfliege), ein trockener Samstag und der heiße Rennsonntag, von dem viele noch ihren Enkeln erzählen werden.
Tipps vom Profi Anton Palzer.
Eine gute Vorbereitung ist das eine, der Renntag selber das andere. Und die Hitze? Die große Unbekannte. Zum Glück gab es Tipps von Anton „Toni“ Palzer (#goschnpoliern) beim Medienempfang im Bergzauber hoch über Sölden. „Viel trinken und vor allem essen. Bis zu 120 bis 140 g Kohlehydrate pro Stunde. Und eine Flasche mit Wasser. Zum Kühlen“. Na bumm. Aerobee haben 18-19 g Kohlenhydrate und 180 mg Salz pro Gel. Das wären dann 7,3 Packungen pro Stunde. Die Tipps vom Profi Anton Palzer waren gut gemeint, haben jedoch ein schier unlösbares Logistikproblem geweckt. Wohin mit den Gels? Das Wasser? Die Salztabletten? Das Pulver für die Flasche? Glücklich all jene, die eine Betreuung entlang der Strecke „buchen“ konnten. Trotz Vollpension entlang der 227 Kilometer mit insgesamt 5 + 1 Labestationen auf 5.300 Höhenmeter. Ein Hobbyrennen ist der Ötztaler Radmarathon schon lange nicht mehr.
Dead Valley auf 1500 Metern Höhe.
Alle haben sich es warm gewünscht. Alle haben es heiß bekommen. Der Höhepunkt der Hitze lag eindeutig zwischen St. Leonhard und Moos. Einen Wimpernschlag nach dem Blick auf das kühle Blau des Schwimmbades von St. Leonhard, welches auf der Abfahrt vom Jaufenpass prominent ins Auge gestochen ist. Hier wären einige liebend gerne stehen geblieben und abgetaucht. Ab hier jedoch erwischte es wohl alle. Die 29 Kilometer mit knapp 1.800 Höhenmetern hinauf auf das Timmelsjoch waren ein frontaler Angriff auf den Kreislauf aller noch im Rennen Verbliebenen. Der tiefste Punkt erreicht. Das Vorspiel abrupt beendet. Jetzt ging es nur noch ums Überleben.
Die Kunst bestand von nun an darin, zwischen Schwarzsehen, Umfallen und Kotzen trotzdem einfach weiter zu kurbeln. Rhythmus hatten da nicht mehr viele. Kühlung Mangelware. Die Dame im Bikini in Moos hatte alle Hände und Becher voll zu tun, die Temperatur aufgeheizter TeilnehmerInnen zu regulieren. „Mogsch a wosso?“ Mehr war nicht zu vernehmen. Gleichzeitig ergoss sich ein Wasserschwall vom Helm bis tief unter den Rücken. Zehn Sekunden Power. Dann war der Spuk vorbei. Auch die Motorradfahrer konnten nicht mehr wirklich helfen. Ihr Getränkevorrat entweder aufgebraucht oder brodelnd. Fast kochend. Dead Valley auf über 1500 Metern Höhe. Was für ein Traum.
Wem der Kreislauf zu kippen drohte oder wem dadurch langsam die Kräfte schwanden, war am Höhepunkt des Ötztaler Radmarathons 2023 angekommen. Auch die Qual, sich mit Energie versorgen zu müssen und die Unmöglichkeit, den Körper zu kühlen, war Teil des vorprogrammierten Untergangs. Die Gesetze des Ötztaler Radmarathon kann man nicht brechen. Weder im Juli, noch Ende August. Und was hatte Anton Palzer noch am Vortag gesagt?
Zwischen Hitzewelle und Wattschwelle.
Der Mensch ist zu vielem fähig. Dazu braucht er den Kopf. Beim Rennrad fahren auch die Beine. Wenn diese nicht mehr wollen, hilft nur mehr der Kopf. Fehlt aber die Verbindung, ist es aus. Hitze und Watt sind schwer in Einklang zu bringen. Das haben die meisten gespürt. Der Ötztaler Radmarathon verwandelt dich. Vor, während und nach dem Rennen. Egal ob kalt oder heiß. Du bist im Ziel ein anderer Rennradfahrer. Eine andere Rennradfahrerin. Die Verwandlung dauert je nach Kondition und Willenskraft 7 bis 14 Stunden. Ganz egal wie oft du bereits am Start gestanden bist. Nirgendwo anders wird das Finisher-Trikot mit derartigem Stolz getragen und vorgeführt. Der Mythos lebt. Eine Erfahrung, die man als RennradfahrerIn gemacht haben will. Warum das so ist, können nur jene beschreiben, die dabei waren und dabei sein werden.
Der Ötztaler Radmarathon ist nicht nur ein Rennen. Es ist ein Urlaub bei Freunden und mit Freunden. Auch wenn nicht mehr ganz so erschwinglich. Wie alles im Leben. Ein Teller Nudeln für € 14,- ist fast wie von einem anderen Stern. Der Stern der Reichen und Schönen. Vonseiten der TeilnehmerInnen wird nicht nur auf der Strecke vieles abverlangt. Es ist auch der Verzicht auf dem Weg nach Sölden. Um in Sölden anzukommen, bleibt einiges auf der Strecke. Familie, Beruf, Vermögen. Das Ötztal hat vieles richtig gemacht. Die Frage ist, wohin es noch gehen wird. Der Hobby-Radsport darf kein elitäres Eventspielzeug werden. Ein Wochenende für 2 Personen in Sölden ist samt Startplatz unter € 1.000 fast nicht mehr zu kriegen. Aber so ist die freie Marktwirtschaft. Angebotsknappheit und ganz viel Nachfrage.
Es geht um die eigenen Grenzen.
Das mit dem schönen Wetter über den vier Pässen hat dieses Mal perfekt funktioniert. Der Juli hat seinen Vorteil voll ausgespielt. Ein Segen für die TeilnehmerInnen und den Veranstalter. Sogar der letzte Teilnehmer konnte bei Tageslicht knapp unter 14 Stunden sein Ziel erreichen. Stress war ihm dabei nicht anzusehen. Er brauchte weder eine wärmende Decke oder Folie noch fremde Hilfe. Der Allerletzte zitterte nicht. Nein, er strahlte und mit ihm die vielen noch im Zielraum verbliebenen ZuschauerInnen. Einzig die Lichter der vielen Begleitfahrzeuge von Rettung, Polizei, Rennleiter und Traumfänger kamen nicht so zur Geltung wie üblich, wenn über Sölden die Nacht hereinbricht. Der Party im Ziel hat das aber nicht geschadet. Hier weiß man, wie man den Tag zur Nacht macht und den Morgen danach gut verschleiert.
Beim Ötztaler Radmarathon geht es um die eigenen Grenzen. Grenzen, die man hier verschieben muss. Beim Schreiben dieser Zeilen sind die Anstrengungen nach wie vor zu spüren. Aber auch die erlebten Hochs und Tiefs. Das 15. Finisher Trikot ist gut verstaut. Die 18. Teilnahme (plus der virtuelle Ötzi 2020) ist „in the books“. Sofern die Rechnung stimmt. Aufzeichnungen aus einer Zeit, als noch Armbändchen die Durchfahrt am Jaufenpass bestätigt haben, gibt es keine. Klopfen wir auf Holz, dass es weitere Teilnahmen geben wird. Warum man sich das antut? Einmal mitfahren und man bekommt die Antwort. Nein, man spürt sie. Sie geht durch den ganzen Körper. Schüttelt dich durch und rührt dich zu Tränen. Der Ötztaler Radmarathon nimmt viel und schenkt dir am Ende mehr als du dir je erhofft hast.
2024 wird alles wieder gleich anders.
Tür auf und gleich Tür wieder zu. Danke Juli. Es war eine schweißtreibende Freude. Wir werden dich vermissen. Kehren zurück zur alten Tradition. Die Frage, wie das Wetter werden wird, beschäftigt uns jetzt schon. Wir werden uns alle wieder anstellen und hoffen, dass wir dabei sein dürfen. Denn nach dem Ötztaler Radmarathon ist wie immer vor dem Ötztaler Radmarathon. Nie mehr wieder, bis zum nächsten Mal.
Der Ötztaler Radmarathon 2023 in Zahlen: 3.869 FinisherInnen und 4.337 Heldinnen. Dazu noch Hunderte von freiwilligen HelferInnen und Tausende Begleitpersonen, ohne die der Ötztaler Radmarathon nicht das wäre, was er ist. Ein ganzes Tal steht kopf. Für all jene, die sich diesen Traum erfüllen wollen. Die nächste Gelegenheit ist am 1. September 2024. Bei vielleicht kühleren Temperaturen oder wie eh und je. Gnadenlos und ohne Erbarmen. Zwischen frieren und schwitzen. Mehr zum Event gibt es hier.
#ktrchts