Sag zum Abschied leise „Servus“. Der Ötztaler Radmarathon 2022 findet zum letzten Mal Ende August statt. Er verlässt den Pflichttermin für das alljährliche Familienfest im Ötztal. Bis auf ein paar wenigen Ausnahmen, so wie 2017, war der letzte Sonntag im August für viele RadsportlerInnen das Highlight ihres Radsommers. Und für das Wetter war Ende August die beste Gelegenheit, sich in und rund um Sölden vom Sommer- auf den Wintermodus umzustellen. Noch kann keiner genau sagen, was sich der Wettergott dieses Jahr einfallen hat lassen. Eines ist aber bestimmt. Der 28. August 2022 wird mit oder ohne Regen, Schnee und Hitze in die Geschichte eingehen. Es wird jener Tag sein, an dem wir uns alle zurückerinnern werden. Damals werden wir sagen. Damals wussten wir, dass es in der Höhe schneien würde. Dass alle Regenjacken im Ötztal vergriffen sein werden, die Expo laut „Sold Out“ schreien würde für alles, was irgendwie mit Gore-Tex zu tun habe. Und eine Wetterfee nach der anderen, die Apokalypse bekannt geben musste. Wetterwarnungen vom Veranstalter inklusive. All das wussten wir im Voraus. 2023 wird alles gleich sein. Nur eben anders.
Das Wetter wird gleich sein. Nur anders.
Hochalpine Freiluftveranstaltungen bergen ein gewisses Risiko. Man kann sich dabei nie sicher sein. Das macht die Sache spannend bis zum Startschuss. Nicht nur im August. Womöglich, nein, ganz sicher auch Anfang Juli im nächsten Jahr. Der Reiz ist diese Ungewissheit und diese Ungewissheit reizt. Nein, sie triggert. Jahr für Jahr. Man will den Epos, scheut aber, Teil davon zu sein. Alle jene, die 2003 gestartet sind und all jene, die 2013 gelitten haben, wissen ein Lied davon zu singen. Auch wenn der Ötztaler Radmarathon Jahr für Jahr seine eigene Geschichte schreibt, diese zwei Jahre waren episch und kaum zu überbieten. Wenn, ja wenn nicht ein Jahrhundertwinter bevorsteht und das Timmelsjoch Anfang Juli noch im Restschnee versinkt. Dann wird ein ganz neues Kapitel geschrieben. Vom Mythos, von den Helden, von den Sonntagen Ende August, als es eigentlich doch ganz angenehm war.
Wir können es drehen und wenden wie wir wollen. Zu heiß, zu kühl, zu kalt, zu trocken, zu nass, zu lang und zu steil. Wir alle wissen, dass der Ötztaler Radmarathon kein Kindergeburtstag ist. Treten freiwillig an, um uns zu quälen. Haben es stets selbst in der Hand. Jede Entscheidung ist unsere eigene. Und doch suchen wir immer einen Schuldigen. Das Wetter, der Monat, die Umleitung … um nur ein paar zu nennen. Von den individuellen Ausreden und Missgeschicken wollen wir gar nicht anfangen. Dasselbe gilt für die Höhenmeter. Einmal sind es zu viele, dann wieder zu wenige. Heuer beispielsweise sind es auch wieder etwas mehr. Als erhofft.
Der Mythos Ötztaler Radmarathon lebt.
Der Ötztaler Radmarathon wäre kein Mythos, gäbe es nicht das jährliche Murmeltier, das uns alle grüßt. Nicht nur zum Thema Wetter. Denn auch die Strecke wird schön langsam zur Diva, die gerne überrascht und sich nicht festlegen will. War es im letzten Jahr das Sattele, so beschert der Ötztaler Radmarathon 2022 allen TeilnehmerInnen gleich drei Umleitungen. Eine für immer (sofern es das gibt) und zwei temporäre. Im Sellrain schenkt eine Baustelle allen StarterInnen 5,7 Mehrkilometer und 182 Mehrhöhenmeter, die Umleitung am Brenner ist nicht der Rede wert und in Sterzing gibt es bei fast identer Streckenlänge jedoch noch einmal 111 Höhenmeter obendrauf. Das macht 2022 fast tatsächliche 5.500 Höhenmeter über die gesamte Strecke. Der Mythos lebt, denn obwohl es auf jeder offiziellen Ausschreibung steht, verursachen diese 5.500 Höhenmeter wieder einmal Chaos. Wir wollen die 5.500 Höhenmeter und prahlen damit. Fahren will sie aber niemand. So wie letztes Jahr war und so wie es die nächsten Jahre sein werden. Mitsamt dem Wetter. Warum eigentlich?
Eine Frage, die sich wohl kaum beantworten lässt. Mythen sind Mythen. Und der Ötztaler Radmarathon ist eben kein gewöhnlicher Radmarathon. Er fesselt dich, er verschlingt dich und spukt dich erst wieder aus, wenn du deine Leidensfähigkeit unter Beweis gestellt hast. Dann, wenn du am Timmelsjoch den rettenden Tunnel erreichst hast. Dich dann noch zur Passhöhe quälen konntest und mit den letzten Konzentrationstropfen die Abfahrt zum Gegenanstieg zur Mautstation überlebt hast. Diesen anschließend, egal wie, noch hochkommst, um dich dann frisch wie schon lange nicht mehr, mit den letzten freigewordenen Kräften im freien Fall nach Sölden hinunterwirfst.
Augen zu und durch, hinauf und hinunter.
Jeder Kilometer des Ötztaler Radmarathon ist es wert. Und wenn es mehr sind, gibt es eben mehr Kilometer zum selben Startgeld. Jeder Höhenmeter ist es auch wert. Und sind es mehr, dann hat man eben mehr davon zum selben Startgeld. Wenn das geklärt ist, dann können wir bitte wieder über das Wetter reden. Wie wird es am 28. August 2022 und vor allem am 9. Juli 2023?
#ktrchts
#ÖtztalerRadmarathon